A HARLOT'S PROGRESS
Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home

Theater an der Wien
13. Oktober 2013

Uraufführung

Musikalische Leitung: Mikko Franck

Inszenierung: Jens-Daniel Herzog
Bühne: Mathis Neidhardt
Kostüme: Sibylle Gädeke
Licht: Jürgen Koß
Choreografie: Ramses Sigl

Wiener Symphoniker
Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)

Moll Hackabout - Diana Damrau
Mother Needham - Marie McLaughlin
Kitty - Tara Erraught
Mister Lovelace - Christopher Gillett
James Dalton - Nathan Gunn
Coach Driver/Officer/Jailer - Nicolas Testé


„Drastisch dräuendes Dirnen-Drama“
(Dominik Troger)

Uraufführung im Theater an der Wien: „A Harlot’s Progress“ von Iain Bell auf ein Libretto von Peter Ackroyd nach der gleichnamigen Kupferstichfolge von William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert. Starker Schlussjubel nach einem etwas langatmigen Opernabend.

Was macht Igor Strawinskis Oper „A Rake’s Progress“, das ebenfalls auf einer Hogarth’schen Kupferstichserie beruht, für den Zuschauer interessant? Nick Shadow, der Teufel, mit dem das Libretto auf für das Publikum immer wieder überraschende Weise Gesellschaftskritik und Märchenmotive verknüpft. Was macht „A Harlot’s Progress“ mit Fortdauer des Abends immer uninteressanter? Dass das Stück förmlich an der Hogarth’schen Bilderfolge klebt und Moll Hackabouts trostloses Prostituierten-Schicksal abläuft wie ein belletristischer Undercover-Aufklärungsroman: Für diese Londoner Sexarbeiterin gibt es kein Entrinnen – nicht einmal der Teufel schaut bei ihr vorbei.

Dabei fällt ganz unter den Tisch, dass Molls Frauenschicksal aktueller ist denn je, weil die enge Verknüpfung mit einem zweihundert Jahre alten Bilderzyklus das brennende Thema neutralisiert und in einen historischen Winkel abschiebt, der es entschärft. Zwar traut man diesem „alten London“ schon einiges zu, wenn man einmal im „Londoner Tagebuch“ des jungen und sehr umtriebigen schottischen Edelmannes James Boswell geblättert hat – und auch anderswo. Aber wozu bei dieser Thematik das alte London auf die Bühne zerren? Zudem gefällt sich Librettist Peter Ackroyd nicht nur in einer oft recht zotigen Sprache, sondern er neigt dazu, die zotige Rede metaphorisch auszukleiden, um eine „Poesie des Geschlechtsverkehrs“ zu entwickeln, deren Ironie – falls das damit gemeint war – zumindest die Übertitelungsanlage nicht überlebt hat.

Der Gesamteindruck war also etwas flau – auf einen starken Beginn folgte der Absturz nach der Pause. An diesem Beginn verspricht die Oper die Begegnung einer jungen Frau vom Lande mit einem großstädtischen London. Die Musik beginnt verheißungsvoll, ein kurzes Vorspiel, ein Londoner Marktchor, der gleich klar macht, dass „Greenhorn“ Moll Hackabout, in der Stadt kein einfaches Leben haben wird. Das Orchester ist schön geteilt: tiefe Bläser bedrohen ein wenig, hohe Streicher bringen eine hellere Klangfläche mit ein, und in den sechs Celli regt sich ein melancholisch leidenschaftliches Gefühl. Iain Bell erweckt die Stadt zum Leben, setzt sie in Musik wie Britten das Meer – und dieses „London“ sollte als vielschichtige „Verlockung“, wie Iain Bell es in einem ausführlichen Beitrag im Programmheft formulierte, die ganze Oper lang untergründig gegenwärtig bleiben. Stilistisch ist am Beginn Britten stark gegenwärtig. Die Musik wird mit dem Fortschreiten der Handlung zwar „kantiger“, aber nie „experimentell“. Sie verliert allerdings auch an „emotionaler Eindeutigkeit“. Das macht es einen als Zuhörer schwer, Sympathie für die Bühnencharaktere zu entwickeln. Mir blieb diese Moll den ganzen Abend lang eigentlich ziemlich „fremd“.

Doch zurück zur Handlung: Moll Hackabouts „Karriere“ ist sehr klar vorgezeichnet (vergleichbar mit jener von Manon Lescaut – aber Manon Lescaut hat den zärtlicheren Liebhaber und den interessanteren Charakter). Gleich nach ihrer Ankunft wird sie von der Kupplerin Mother Needham als Gespielin an einen älteren Herrn, St. John Lovelace, „verkauft“. Als Moll Lovelace mit ihrem Freund, dem (Klein-)kriminellen James Dalton, betrügt, schmeißt er sie hinaus. Dalton, den Moll aufrichtig liebt, wird ihr Zuhälter. Moll erkrankt an Syphilis und wird schwanger. Lovelace möchte Moll zurück haben, forscht sie aus, und verstößt sie endgültig, als er erfährt, dass sie ein Kind erwartet – soweit die ersten drei Szenen bis zu Pause.

Bell ging hier musikalisch gut auf die unterschiedlichen Charaktere ein, und noch bewegte sich die Handlung in einem etwas komplexeren Figurengeflecht: Kitty, Molls Vertraute, deren Darstellung im Laufe des Abends immer mehr an Sympathie gewinnt; der knöchrige Lovelace, eine Standesperson, aus der man leicht eine Karikatur machen könnte (was Bell allerdings nur in der Szene ausspielt, in der Lovelace seinen letzten Geschlechtsakt mit Moll vollzieht); der brutale Dalton, der Moll auch zu lieben scheint, und dessen Brutalität immer wieder zum Beispiel im Blech durchbricht. Moll selbst bleibt allerdings stark auf ihr Dirnendasein reduziert, ihre sexuellen Abenteuer sind für manch humorvolle musikalische Nuance gut, immerhin sorgt ihre zwiespältige Beziehung zu Dalton für etwas Abwechslung.

Nach der Pause in den Szenen 4, 5, 6 (Gefängnis, Dachkammer mit Wahnsinnsausbruch und Tod, Begräbnis) reduziert sich die Handlung ganz auf Moll. Die viel zu lange Gefängnisszene dient vor allem dazu, die hochschwangere Hauptperson weiter zu exponieren. Mother Needham wird ein langes, überflüssiges Streitgespräch mit Moll zugestanden. Die Nachricht, dass Dalton am Strang geendet hat, hätte dem Publikum auch ressourcenschonender beigebracht werden können. Auch Molls Wahnsinnsanfall und ihr Tod werden episch ausgebreitet, ohne dass sich Handlung und Musik zu einem Kulminationspunkt aufschwingen würden.

Bell spielt da und dort zwar ein wenig mit alten Formen, bringt auch eine Harfe für den Wahnsinn „in Stellung“. Doch das Orchester holt hier schon recht kräftig aus (60 Musiker), versucht das Toben der Syphilis nachzuzeichen und erschöpft sich dabei, während Moll einer schwierigen Gesangslinie folgend minutenlang ihr stimmliches Geschick forcieren muss. Wie tröstlich hingegen die kurze Stelle des Wiegenliedes, mitten in diesem Sturm, wenn plötzlich Kontrabässe mit sich wiederholendem Pizzicato durch ein stimmungsvolles Raunen hallen, Herzschläge oder was auch immer, Ruhepole im Syphiliswahn. Vielleicht war es ein Weiterspinnen dieses „Londoner-Stadtgefühls“ vom Beginn, endlich Ruhe gewährend, das zu Molls Tod dann noch einmal aufwallt, fast verklärend, ehe der Mob in banaler und leichenschänderischer Weise über die tote Dirne herfällt. Molls Baby geht auf Mother Needham über, als neues „Kapital“ für schmutzige Geschäfte. Berührend die Schlussidee: Molls Kind kommt auf die Bühne wie ihre Mutter am Beginn, der Kreis der Ausbeutung hat sich geschlossen.

Diskutieren könnte man noch über die Funktion des Chores, der zuerst bedeutend in die Handlung eingeführt wird, dessen Stellung dann aber zunehmend verblasst. Am Beginn meint man, der Chor würde „als London" kommentierend das Geschehen begleiten (einem Chor des antiken Theaters nachempfunden) und das hätte einen guten Gegenpol zu Moll abgegeben, um ihr Schicksal zu objektivieren – aber genau das wurde nur sehr fragmentarisch umgesetzt. Im Finale ist der Chor nur mehr pervertiert, Kitty steht ihm mit ihrem bewahrten Rest an Humanität alleine gegenüber. Als Beispiel sei auch Brittens „The Rape of Lucretia“ erwähnt, wo eine ähnlich schonungslose Handlung durch den „Male/Female Chorus“ eine weitere Bezugsebene erhält. Durch solche „Konstruktionen“ hätte man dieser „Betroffenheits“-Falle entgehen können, die bei Teilen des Publikums schließlich Ermüdung und Desinteresse hervorruft.

Die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog hat realistisch und teils mit Humor dieses Geschehen bebildert – sehr eindeutig und plakativ, aber nicht übertrieben drastisch im Darstellen von Kopulationen und anderen XXX-Handlungen, mit viel Körpereinsatz, guter Personenführung, ein paar Ideen, die die Handlung auflockerten. Die Kostüme von Sibylle Gädeke waren historisierend genug, um einen an das 18. Jahrhundert denken zu lassen, auch wenn der Marktchor am Beginn mit Getränkedosen handelte. Die Bühne hat Mathis Neidhardt mit einer weißen Bretterwand abgegrenzt, die sich mit guten Effekten öffnen konnte. Requisiten wurden sparsam verwendet, die Schauplätze ausreichend mit ihnen angedeutet.

Iain Bell war die Uraufführungsbesetzung zum Teil bekannt. Die Oper hat ihre Entstehung schließlich Bells Freundschaft mit Diana Damrau zu verdanken, für die er schon (hörenswerte!) Lieder komponiert hat. Damrau hat sich ganz in die Rolle geschmissen und war das Zentrum der Aufführung. Sie versah Moll mit Leidenschaft, Spitzentönen, Belcanto-Assoziationen. Die übrige Besetzung war ebenfalls sehr gut ausgewählt: der trockene Charaktertenor von Christopher Gillett als Lovelace, Nathan Gunn mit seinem gestählten Bariton als Dalton, der weichere, jugendliche Mezzo von Tara Erraught für Kitty (die hier viel besser aufgehoben war, als bei der Staatsopern-„Cenerentola“), ganz zynisch-kalkulierende Geschäftsfrau: Marie McLaughlin als Mother Needham. Mit vollem Einsatz der Arnold Schönberg Chor, der wieder in Gesang und Spiel auftrumpfen konnte. Die Wiener Symphoniker unter Mikko Franck wirkten souverän.

Vom starken Schlussjubel wurde schon gesprochen. Offenbar gab es aber vereinzelte Buhrufe, die auf Bell abzielten, wie man in ersten Besprechungen lesen konnte.

Fazit: Um noch einen Vergleich aktueller britischer Opernneuheiten zu riskieren: „Written On Skin“ von George Benjamin, bei den diesjährigen Wiener Festwochen präsentiert, ist aus meiner Sicht das interessantere und spannendere Werk. Mehr Schlussjubel beim Publikum hat allerdings „A Harlot’s Progress“ „eingespielt“.