GOGOL
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Theater an der Wien
15.11.2011

Uraufführung

Musikalische Leitung: Vladimir Fedoseyev


Inszenierung: Christine Mielitz
Bühne: Johannes Leiacker
Kostüme: Kaspar Glarner
Licht: Stefan Bolliger
Choreografie: Arila Siegert

ORF Radio-Symphonieorchester Wien

Arnold Schoenberg Chor (Ltg. Erwin Ortner)
Grazer Kapellknaben und Mozart Knabenchor Wien

Gogol - Martin Winkler, Otto Katzameier
Bes - Ladislav Elgr
Poshlust, Hexe - Natalia Ushakova
Tod - Stella Grigorian
Nikolka - Sebastian Schaffer
Maria, Gogols Mutter, Braut Nr. 1 - Tatiana Plotnikova
Priester, Herr Doktor, Vijs Stimme - Deyan Vatchkov
Braut Nr. 2, Stimme der Nymphe - Anna Gorbachyova
Braut Nr. 3 - Iwona Sakowicz
Richter - Tim Severloh
Staatsanwalt, Verteidiger - Falko Hönisch
Nymphe - Maria Peniaz, Barbora Kohoutková


„Pandaimonion der russischen Seele?“
(Dominik Troger)

Albtraum eines Dichters. Die Oper „Gogol“ der russischen Komponistin Lera Auerbach wurde im Theater an der Wien uraufgeführt.

Erstbegegnungen mit zeitgenössischem Musiktheater sind wie Erkundungsgänge in unbekanntem Terrain. Manchmal hat man eine Landkarte mit dabei, aber meist stapft man querfeldein und mustert gemessenen Blickes die Landschaft, die sich einem aus ständig wechselnden Perspektiven darbietet. In solchem Fall ist von großem Nutzen, wenn man zumindest eine Wegmarkierung findet. Die Komponistin hat ihre „Opera-misteria“ – so die Werkbezeichnung – im Programmheft zur Aufführung folgendermaßen charakterisiert. Sie wollte „(...) eine traumgleiche Vision von Gogols innerer Passion, seinem Wahnsinn und seiner Genialität schaffen. Gogol ist eine russische Oper, und die russische Geschichte ist eine albtraumhaftes Märchen, aus dem dieses Land immer noch nicht erwacht ist.“

Das Werk handelt also von Nikolai Gogol, der in unseren Breiten vor allem durch das Theaterstück „Der Revisor“ bekannt ist. Auch von einer„Nase“ war an diesem Abend hin und wieder Rede – Gogols bekannte Novelle, die Schostakowitsch veropert hat. Wer sich nicht näher mit Gogols Werk befasst hat, dem werden aber viele Querbezüge entgangen sein – so auch mir. Gogols überspannter Charakter, seine Selbstzweifel, sein religiöser Wahn, seine Textverbrennungen und sein Hungerkünsteln haben Auerbach sichtlich fasziniert. Möglicherweise hat sie hier im Speziellen etwas Allgemeines entdeckt: Vielleicht die sich im Individuum eingenistet habende russische Seele? Aber was ist diese „russische Seele“ überhaupt? Die Wegmarkierung, die die Komponistin angebracht hat, führt offenbar in etwas nebelige, ziellose Weiten. Russland ist (zu) groß.

Auerbach hat also keine Oper über den historisch greifbaren Dichter Nikolai Gogol getextet und komponiert. Sondern die Handlung besteht aus vielen bösen Traumbildern und personalen Verdopplungen – Gogol als Kind Nikolka, Gogol von den zwei Sängern Martin Winkler und Otto Katzamaier dargestellt (das hat sich so ergeben, weil Boris Skovhus die Mitwirkung an der Uraufführung abgesagt hat). Auf der Bühne tummelt sich reichhaltig Personal. Es gibt viele Chöre. Dämon Bes und Hexe Poshlust treiben mit dem bigotten Gogol ihre erotischen Scherze. Drei Akte und insgesamt sieben Szenen füllen inklusive langer Pause einen Opernabend von 19.30 Uhr bis ziemlich genau 22.00 Uhr.

„Füllen“ ist dafür der richtige Ausdruck: Es wabern Visionen wie Nebelbänke über die Bühne des Theaters an der Wien. Meint man im ersten Akt noch den roten Faden zu ertasten, wenn Gogol voller Selbstzweifel seine Werke verbrennen möchte, so verliert man bald den Überblick. Das Auge wandert zwischen der von Christine Mielitz üppig in Bewegung gehaltenen Szene, der Untertitelungsanlage mit ihren deutschen Libretto-Extrakten und dem Dirigenten Vladimir Fedoseyev hin und her. Im Ohr macht sich ein hauptsächlich von den Streichern zubereitetes Substrat breit, das von Tschaikowsky bis Schostakowitsch alles in sich aufgesogen hat, was die russische Klassik ausmacht. Solche „Moderne“ eckt nirgendwo an, spielt hin und wieder mit Avantgardismen, baut neckisch russische Folklore ein und „mystische Erinnerungen“ an orthodoxe Kirchengesänge. Das ist zuerst interessant, verliert aber rasch an Substanz.

Das Spiel mit dem Traum hat zudem den großen Nachteil, dass in ihm alles möglich scheint. Auerbachs Gogol entwickelt kein „Bühnenleben“ und besitzt keinen entwicklungsfähigen Charakter. Die Hauptfigur befindet sich über weite Strecken in einem ermüdenden, exaltierten Dauerzustand. Sie hat – polemisch formuliert – ihr „Ablaufdatum“ schon am Beginn der Oper erreicht.

Erst im dritten Akt bekommt das Stück wieder ein bisschen Boden unter die Füße. Es steigt die große Gerichtsszene, in der Gogol als Träumer über sein Werk und somit über sich selbst richtet. So schafft sich jeder Mensch sein eigenes Schicksal – niemand entkommt sich selbst. Zum Finale klappt ein großes Stück Bühnenboden hoch, Knabe Nikolta nimmt den Platz knapp bei der Bühnenrampe ein, an dem er am Beginn des Abends gelegen hat. Der Kreis schließt sich, der (zu lange) Traum endet.

Vielleicht hätte es geholfen, wäre das Regiekonzept von Christine Mielitz mehr darauf ausgerichtet gewesen, dem weitgespannten Entwurf der Lera Auerbach ein paar feste Anker zu setzen – Wegmarkierungen eben. Aber hier obsiegte die bekannte Liebe der Regisseurin zum Bewegen von Massen, zur Bühnenmaschinerie, zu viel Aktionismus, so dass einem als Zuschauer kaum ein Moment der Ruhe eingeräumt wurde. Sogar ein Stuntman wurde engagiert, der in silbernem Kostüm vom Schnürboden an Seilen herabgelassen, ein Luftballett tanzte. Auf diese Weise hat Mielitz szenisch noch erweitert, was Auerbach in der dramaturgischen Konzeption meiner Meinung nach ohnehin schon zu weit und schwammig geraten ist. Der Versuch, szenisch aus dem Ganzen eine Art von russischem „Totentanz“ zu kreieren, hat die vage Struktur des Werkes endgültig gesprengt.

Der Abend war sehr gut einstudiert, die Personenregie und die Gesangspartien teilweise herausfordernd. Alle Mitwirkenden wurden vom Publikum reichlich beklatscht – fast eine Viertelstunde lang.

Die Komponistin kam selbst auf die Bühne, trat allein an die Rampe vor. In ein knöchellanges, schwarzes Kleid gehüllt wirkte sie wie ein Schulmädchen. Ihre Rührung in Anbetracht des starken Beifalls: Wie ein schüchternes, dunkeläugiges Reh, dass sich in die Stadt verirrt hat. Von der Rampe in die Reihe der ausübenden Künstler zurücktretend gewann sie ihre Fassung wieder.