AMAZONAS: TILT & A QUEDA DO CEU
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Museumsquartier Halle E
26. April 2013

Musikalische Leitung: Heinz Friedl

Regie:Michael Scheidl
Ausstattung: Nora Scheidl
Choreographie: Eilo Gervasi
Licht: Norbert Joachim

Ensembles:
piano possibile
(1. & 2.
Teil)
die reihe
(2. Teil)

Koproduktion von Netzzeit, Münchener Biennale, SESC Sao Paulo, Goethe Institut, ZKM Karlsruhe, Hutukara Associacao Yonomami, Teatro Nacional des Sao Carlos (Lissabon)

Österreichische Erstaufführung 25. April 2013

Tilt!

Darsteller:
Mafalda De Lemos, Moritz Eggert, Christian Kesten


A queda do céu

SängerInnen:
Katia Guedes, Gernot Heinrich, Gerd Kenda, Phil Minton,
Christían Zehnder

SchauspielerInnen:
Kristina Bangert, Grischka Voss, Ernst Kurt Weigel

TänzerInnen:
Salvatore La Feria, Patric Redel, Leonie Wahl



Ego-Shooter am Amazonas
(Dominik Troger)

„Out of Control 2013“ – Festival für neues Musiktheater lud in die Halle E des Museumsquartiers zu einem Themenabend, der Amazonien in den Mittelpunkt stellte: aus der habgierigen Sicht des „weißen Mannes“ und aus der mythenbezogenen Weltsicht der Ureinwohner.

Dass sich zeitgenössisches Musiktheater aktuellen Stoffen widmet ist nur zu begrüßen. Das Amazonasgebiet mit seinen riesigen Urwaldflächen zählt zu den massiv gefährdeten Ökosystemen dieses Planeten. Zugleich werden die dort siedelnden Ureinwohner von den „Errungenschaften“ westlicher Zivilisation bedroht und verlieren nach und nach ihre soziokulturelle Identität. Diese Problematik aus zwei Blickwinkeln bewusst zu machen – aus dem der Verursacher und dem der Betroffenen – war die reizvolle Aufgabenstellung bei diesem Amazonas-Musiktheater-Projekt.

Entsprechend gliederte sich der Abend in zwei Teile: Vor der Pause thematisierte Klaus Scheidl mit „Amazonas Tilt!“ die europäische Sichtweise anhand des Expeditionsberichtes von Sir Walter Raleigh, der sich im späten 16. Jahrhundert in der Orinoko-Gegend herumgetrieben hat (Libretto: Roland Quitt). Nach der Pause kamen in „Amazonas – A queda do céu!“ die Yanomami als Betroffene mit ihren Schöpfungsmythen und ihrer Kritik an den „weißen Eroberern“ zu Wort. (Musik: Tato Taborda, Libretto: wieder Roland Quitt.)

In „Amazonas Tilt“ wurden einige Absätze aus der genannten Reisebeschreibung in einem sehr lockeren historisch-chronologischen Zusammenhang von drei Darstellern präsentiert. Gemeinsam mit den elektronisch verfremdeten und massiv verstärkten Orchesterklängen ergab sich eine gewalttätige Klangkulisse, gespeist aus spätromantischem Kauderwelsch, Geräuschingredienzien, Wortkaskaden und hardrockigem Gitarrenklang, verpackt in das abrupte Sounddesign von Computerspielen. Der Sir schien weniger mit englischer Gemütlichkeit, als mit der Aggression eines Ego-Shooters durch den Urwald zu marschieren, und mit Maschinengewehrsalven alles abzuknallen, was ihm vor den Lauf kam. Das imperialistische Zerstörungspotential schwoll im Laufe der Aufführung zu einem wütenden Klangorkan, der dann im Finale jenseits der Schmerzgrenze in einem orgiastischen Todeskampf verzuckte wie von gewaltigen Stromstößen gespeist. Scheidl beschwor eine Apokalypse, die sogar das sparsame „Sitzmobiliar“ in erdbebenhafte Vibrationen versetzte.

Das Publikum saß auf hohen Stufen, die eine Seite der Halle ausfüllten (wobei – genaugenommen – nur der Bühnenraum der Halle genutzt wurde, der eigentliche Publikumsbereich mit den aufsteigenden Sitzreihen war gesperrt), drei Videowänden gegenüber, auf denen groß die Gesichter der drei Darsteller (zwei Männer, eine Frau) zu sehen waren. Ein paar Mal gingen die Leinwände hoch, dann stand einer der Darsteller wirklich dort, wie auf einer kleinen Bühne. Manchmal wurde der Text eingeblendet. Es war aber fast unmöglich, sich einen roten Faden herauszupicken.

Im Laufe der knappen Stunde keimte in mir schnell der Verdacht auf, dass man diesem Klangorkan eigentlich einen x-beliebigen Text zugrunde hätte legen können, solange er nur eine gewisse Gewalttätigkeit zum Inhalt hat. Und für die bereits erwähnte stilistische Anleihe beim Soundtrack von Computerspielen war die szenische Ausführung zu „konventionell“. Wäre nicht eine Art von „Virtualisierung“ des Raleigh’schen Reiseberichtes vorstellbar gewesen? Dann allerdings mit modernen computergraphischen Methoden und nicht nach dem künstlerischen Verständnis einer schon etwas in die Jahre gekommenen „Performancekunst“, die sich hier mit recht gängigen populärmusikalischen Effekten mischte. Laut Programmzettel würde in der Klanglandschaft „die Ferne und Aktualität des historischen Berichts gleichermaßen erfahrbar werden“. Dazu hätte allerdings eine sorgsame Lesung des Textes auch schon gereicht. Insofern hat man durch diese „egozentrische“ Umsetzung der Sache selbst keinen Dienst erwiesen, wenn es denn darum gegangen sein sollte, hierzulande das Problembewusstsein über Amazonien zu schärfen. Fazit: Wer sich „Amazonas Tilt!“ gibt, sollte auf Ohrstöpsel nicht vergessen!!

Nach der Pause folgte „Amazonas – A queda do céu!“. Das Publikum saß an den beiden Längsseiten der Halle und blickte auf ein mit braunem Granulat bestreutes und von einer weißen Linie umrandetes Dorfplatzoval der Yanomami. Die nächsten etwa zwanzig Minuten spielten in der abgedunkelten Atmosphäre einer „Amazonas-Nacht“; in der drei Schauspieler das Rätsel des „weißen Mannes“ und seine Bedrohung aus der Sicht der Urwaldbewohner darstellten. Der Perspektivenwechsel war reizvoll, man erfuhr, dass die Yanomami im Rauch, den beispielsweise die Motoren erzeugen, das „Böse“ sehen, das ihre als belebt gedachte Urwaldumgebung zerstört. Der Rauch tauchte dann wirklich auf, kam aus zwei oder drei Kisten, die am Rande der Spielfläche aufgestellt worden waren und zog wie bedrohlicher Nebel auf.

Auf diesen reiz- und stimmungsvollen Versuch einer Annäherung zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen folgte eine Art weiterer „Performance“, bei der die Grenze zwischen Publikum und Akteuren aufgehoben wurde: man durfte auf der Spielfläche zwischen den Darstellern flanieren. Es waren ein paar Stoffelemente herabgelassen worden, auf die wie leuchtende Wassertropfen sich verlaufende Muster projiziert gleichsam Sternenlicht in die Tiefen dunklen Urwalds streuten. Tänzer und Sänger mischten sich darunter, zwei performancegeübte Darsteller an jeder Stirnseite der Halle atmeten, schnalzten, schmatzten, gurrten, kauten, hechelten, keuchten, schnauften, klapperten Geräusche ins Mikrofon. Musiker wie ein Trompeter und ein Hornist zogen ihre Instrumente blasend durch den „Urwald“.

Schwere Kisten wurden gebracht und zwischen das Publikum gezogen, ein Tenor entpuppte sich als Missionar, der aus einem zerlesenen Gebetbuch predigte. Es folgten ekstatische Tänze, es entstand Streit um diese Kisten, Die Mitwirkenden waren schweißgebadet und arbeiteten sich ab, während das Publikum halbbelustigt zuschaute wie die körperlich geforderten Darsteller „Out of Control“ gerieten. Zum Finale wurden drei Kisten übereinandergestapelt wie ein Schlot, und ein wenig Rauch dampfte aus ihnen – war es jetzt zur eindeutigen Gewissheit geworden, dass der weiße Mann gesiegt hatte? Im Hintergrund war die ganze Zeit ein dichter Klangteppich zu hören gewesen, gemixt aus unterschiedlichsten Stilrichtungen, Geräuschen, indogenen Klängen, durchsetzt von Inseln starker Rhythmik – in der Lautstärke viel erträglicher als der erste Teil.

Aber auch hier, so finde ich, hat man das Thema schlussendlich einem aktionistischen Egozentrismus geopfert, anstatt es mit einem dramaturgischen Rückgrat zu versehen, dass einem als Zuseher als meinungsbildende Reibungsfläche hätte dienen können. In einer Wiener Veranstaltungshalle dem Publikum ein sensuales „Urwalderlebnis“ vermitteln zu wollen und das ganze noch mit einem gewissen sozialkritischen Anspruch versetzt, das ist schon eine große Herausforderung. Die Gefahr im Museumsquartier einem so bedrohlichen Raubtier wie dem Jaguar zu begegnen, ist für das Publikum einfach zu gering.

Bei dieser Produktion handelte es sich um die österreichische Erstaufführung (gespielt wurde vom 25. bis 27. April). Die Uraufführung fand bei der Münchener Biennale 2010 statt. Netzzeit sorgte für die Umsetzung, Michael Scheidl für die Regie. Die Produktion war gemessen am Platzangebot recht gut besucht. Im ersten Teil verließen einige Besucher vorzeitig die Aufführung. Die Lautstärke war in der Pause ein Thema. Ich hörte, wie sich mehrere Besucher erkundigten, ob es nach der Pause so laut weiterginge. Natürlich gab es nach beiden Musiktheaterstücken Applaus. Der Beifall nach dem zweiten Teil wirkte gelöster.