BERNARD SHAW 1903

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„Der Revolutionär“

Ich behaupte zwar, dass von Shaws „Mensch und Übermensch. Eine Komödie und eine Philosophie“ nach hundert Jahren nur die Satire übrig geblieben ist, aber was für eine! Ein Gramm davon würde die Damen und Herren Regisseure, die unsere Opernbühnen bevölkern, zu den pointiertesten szenischen Höhenflügen hinreißen. Dabei gilt für sie natürlich genauso John Tanners (alias „Don Juan“) Unschuldsvermutung, die er im „Hand- und Taschenbuch des Revolutionärs“ als „Mitglied der Klasse reicher Nichtstuer“ so treffend artikuliert hat: „Alle Menschen meinen es gut.“

Shaws Bösartigkeit kennt (fast) keine Grenzen, und es überrascht, wie selbst seine – wohl ernst gemeinte – Huldigung an den Übermenschen, heute zumindest noch als ridiküle Persiflage greift. Er wird nicht daran gedacht haben, dass er damit im 21. Jahrhundert nach wie vor als einer der besten Verteidiger von „Don Juan“ beziehungsweise „Don Giovanni“ gelten darf. Denn im dritten Akt, jenem „höllischen Zwischenspiel“ in der Sierra Nevada, werden endlich die wahren Umstände dieses verhängnisvollen Zweikampfes zwischen Don Juan und dem Komtur aufgeklärt: Der Komtur ist der bessere Fechter gewesen und er hätte Don Juan zweifelsohne getötet, wäre er nicht ausgerutscht. Don Juan ein Mörder? Nein, es war ein Unfall bei einem ehrenhaften Kampf!

Der Schluss ist ziemlich konträr zur herkömmlichen Überlieferung: Ann heiratet ihren Tanner. Er hat sich einfangen lassen, um seiner biologischen Verpflichtung nachzukommen. Der „Superman“ wird Kinder zeugen, die die Menschheit in der Evolution eine Stufe weiterbringen. So „verkehrt“ das Verhältnis Anna – Don Juan bei Shaw auch scheinen mag, es führt nur den Grundgedanken von E.T.A. Hoffmann weiter: beide sind vor allen anderen Menschen ausgezeichnet und für einander bestimmt. Aber die Hoffmann’schen Teufelsfratzen haben sich bei Shaw zum Lustspiel gewandelt, die Hölle bietet eine unterhaltsame Massenabfertigung für gelangweilte Verstorbene, angefüllt mit belanglosen Freuden.

Im ausführlichen Vorwort (Brief an Arthur Bungham Walkley) rechtfertigt sich Shaw für seine Heransgehensweise an den Don Juan-Stoff. Er entwickelt darin eine Psychologie der Geschlechter, die man wohl als „Angst des Don Juan vor der Dona Juana“ beschreiben kann. Die Frau ist die Spinne, der Mann die Fliege. Laut Shaw hat Don Juan kein Potential mehr für eine öffentliche Erregung, niemand schert sich mehr um seine „tausendunddrei galanten Affairen“. Das weibliche Geschlecht ist „aggressiv und mächtig“, schreibt Shaw, und Don Juan nimmt eine positive Chance wahr, fügt sich ins Geschick moralisch und göttlich legitimierter Fortpflanzung. Als Endresultat gibt es dann, irgendwann einmal, eine „Demokratie der Übermenschen“...

Shaw (geboren 1856, also auch ein Jahrgangsjubilar!) hat Mozarts „Don Giovanni“ Zeit seines Lebens sehr bewundert.

Bernard Shaw: Mensch und Übermensch. Eine Komödie und eine Philosophie. Deutsch von Annemarie und Heinrich Böll. Suhrkamp Taschenbuch. Frankfurt/Main 1992. (Die englische Erstausgabe „Man and Superman“ erschien 1903, die deutsche Erstausgabe 1907.)
(Originalzitate kursiv gesetzt)

Don Giovanni-Portal - anlässlich des Mozartjahres 2006 - © Dominik Troger