PETER SELLARS 1990

Aktuelle Spielpläne
Forum
Opernführer
Chronik
Home
Don Giovanni- Portal

Don Giovanni in New York, DVD
Regie: Peter Sellars

„Mozart’sche Befreiungstheologie“

Mozart gehört zu Peter Sellars wie seine Stehfrisur. Er folgt ihm meist mit demütiger Aufmüpfigkeit. Ende der 80er-Jahre transferierte er die Da-Ponte-Opern ins New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Ein trostloser Arbeitsplatz für Streetworker, mit Schussloch in der Glastüre, verkommenen Gebäuden, Rauschgift und Bandenkriegen: Peter Sellars riskiert eine Milieustudie. Mozart wird zum Sprachrohr von Randgruppen. Farbige, Weiße, Asiaten. Kriminelle und Polizeispitzel. Sellars spürt das Leid dieser Menschen auf. Die Kamera rückt mit Nahaufnahmen das soziale Anliegen ins passende Licht. Der Bühnenraum ist immer nur ausschnittsweise zu sehen. Dazu gibt es standesgemäße Kostüme: Lederjacken und Donna Elviras Pyjamahose mit Raubkatzenmuster.

Der Hauptfigur gegenüber bleibt Sellars loyal. Don Giovanni wird nicht entehrt und verteufelt, voyeuristisch auf die Anklagebank gezerrt. Ist nicht auch er ein Opfer, ein Raubtier im Käfig? Seine Lebensumstände sind unerfreulich. Sein Lebensrausch ist ein gekaufter und hängt an der Nadel: seine Drogensucht als Symbol für das entfremdete Glück im Zeitalter des Turbokapitalismus.

Der Ansatz ist revolutionär, doch das Ende „amerikanisch“: Don Juan verfällt dem Hades, die übrigen Mitwirkenden finden sich im Fegefeuer wieder. Die Beschwörung eines finalen Purgatoriums gibt dem Schluss eine religiöse Dimension, die aus europäischer Sicht auffällig ist und tendenziös. „Erschüttert fangen Masetto, Zerlina und Leporello zu beten an. Sie wissen, dass die Erlösung mit dem Absingen eines uralten Liedes beginnt. Sechs Stimmen erheben sich und verschmelzen zur Harmonie einer Messe. (...)“ schreibt Peter Sellars in der Inhaltsangabe zur letzten Szene (zitiert nach dem DVD-Booklet). Solche Botschaft infiltriert die New Yorker Suburbs wie tröstliche Bibelverse der Heilsarmee. Durch Sellars spricht „Gott Mozart“ zu uns und reinigt mitleidvoll unsere Seelen ...

Neben dieser Bußpredigt hat Sellars seinen „Don Giovanni“ mit interessanten Details ausgestattet: Don Giovanni und Leporello werden von einem Brüderpaar gespielt, ein psychoanalytischer Widerstreit in der Seele einer einzigen Person. Auch Donna Anna ist drogensüchtig. Von Don Giovanni verführt? Don Ottavio denkt einmal kurz daran, sie umzubringen. Über allem hängt die hohe Mortalitätsrate gesetzloser Stadtrandsiedlungen. Eine kulturkritische Miniatur: Don Giovannis Fastfood-Abendmahl. Klassische Kochkunst in moderner, konsumentenfreudlicher Form, das Federvieh als panierter Fleischwürfel: ein Häppchen, ein Biss. Leporello muss nicht erst lange daran herumkiefeln.

Gegeben wird die gängige Prager-Wiener-Mischfassung, im zweiten Akt ergänzt durch die Auseinandersetzung zwischen Leporello und Zerlina. Die Szene wirkt etwas isoliert, entwickelt aber ihren Reiz. Musikalisch ist die Aufnahme kein Leckerbissen. Bei der Besetzung war Virtuosentum nicht gefragt. Zur Ouvertüre sieht man Obdachlose, die sich an einem Mülltonnenfeuer wärmen. Die Diskrepanz zwischen Musik und Bild ist hier ziemlich groß.

Die DVD-Aufnahme entstand in Koproduktion mit dem ORF im Jahre 1990. Wer sich näher mit der Wirkungsgeschichte des „Don Giovanni“ beschäftigen möchte, kommt an Sellars nicht vorbei.

Don Giovanni-Portal - anlässlich des Mozartjahres 2006 - © Dominik Troger