PIERRE JEAN JOUVE 1942

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Pierre Jean Jouve: Mozarts Don Giovanni

Der Franzose Pierre Jean Jouve hat eines der gedanklich ergiebigsten „Don Giovanni“-Bücher geschrieben, reichhaltig an Ideen, eng an der Musik entlang.

Angeregt wurde das Werk von einem Besuch bei den Salzburger Festspielen Mitte der Dreißiger Jahre – Jouve war von Bruno Walters „Don Giovanni“-Interpretation begeistert gewesen. Das Buch ist 1942 in der Schweiz in französischer Sprache erschienen, die deutsche Übersetzung im Residenz-Verlag erst 1990. Jouve durchwandert das Werk Szene für Szene. Er verknüpft die Handlung mit den musikalischen Details, schürft in psychoanalytischen Tiefenschichten, zeigt historische Bezüge auf. Wer sich sehr nahe auf den „Don Giovanni“ einlassen möchte, findet in ihm eine Fundgrube, die lange einträgt.

Natürlich hat Jouve seine Meinung vom Stand der Dinge. Es ist eine im Kern vom 19. Jahrhundert geprägte Sichtweise, vermehrt um die Erkenntnisse der Psychoanalyse. Jouve wurde 1887 in Arras geborgen. In einem 1935 verfassten Aufsatz zum Thema „Mozarts heutige Größe“ beschreibt Jouve sein in der Kindheit gar nicht so intensives Verhältnis zu Mozart. Er notiert: „In unserer Jugendzeit schien uns (in Frankreich) Mozart genauso fern wie Rameau und mehr dem 18. Jahrhundert verpflichtet als Gluck.“ (Heute würde man wohl die Positionen vertauschen?!) Mozart galt als „liebenswerter“ Komponist, den man sich im schmuckvollen Rahmen auf das Nachtkästchen zur Anbetung stellte. Erst langsam öffneten sich die Ohren für die dahinter verborgenen „Dissonanzen“. Jouve markiert den Weg zu einem „moderneren“ Mozartbild, ohne dass er seine Anbetung dabei aufgeben würde. Die flapsigen Vereinnahmungen vieler heutiger Kunstschaffender, die Mozart gönnerhaft auf die Schulter klopfen, sind ihm fremd. Jouve nennt ihn einen „Mystiker der Musik“ und betont sein Genie. Bei aller Freude an der Interpretation wahrt er einen Abstand, den ihm die Ehrfurcht gebietet – und seine Begeisterung für den „Don Giovanni“ steht der eines E.T.A. Hoffmann um nichts nach.

Trotzdem muss man mit Jouve nicht immer einer Meinung sein. Die Kategorisierung des Unterbewussten, zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch stark von Freuds Sexualtheorien beeinflusst, wirft auf Jouves „Don Giovanni“-Bild so manch bizarren Schatten. Konkret geht es dabei um Donna Annas Hassliebe. Jouve unterstellt ihr, dass sie von Don Giovanni vergewaltigt werden möchte! Er erklärt es aus ihrer tiefen Vaterbeziehung heraus. Er schreibt, Donna Anna sei vor dem Zweikampf geflohen, aus Schuldgefühlen ihrem Vater gegenüber (man könnte aber leicht entgegenhalten, dass sie versucht habe, Hilfe zu holen). Aus dem analytischen Fundus stammt wohl auch seine Doppelgänger-Theorie Don Giovanni und Leporello betreffend. Er argwöhnt, dass die beiden „von der dramatischen Struktur her ein- und dieselbe psychische Realität“ darstellen. Ihr Gefühlsleben wäre austauschbar, Leporello wäre Don Giovannis „niedrigeres Teil“. Spannend wird die Frage, wo man die Grenze dieser Doppelgängerschaft zu ziehen hätte – und welches Verhältnis zu den von Don Giovanni begehrten Frauen daraus entspränge. In einigen Punkten hält er sich sehr an E.T.A. Hoffmann, überhaupt was die Betonung der Achse Don Giovanni – Donna Anna betrifft, er verleiht Don Giovanni sogar das Attribut „dämonisch“.

Sein Haltung zum Schlusssextett ist negativ. Er spricht davon, dass ihm diese letzte Szene „meist unerträglich“ erschienen sei. Offenbar stößt sich Jouve an der Diskrepanz zwischen dem musikalischen Höhenflug der Höllenfahrt und dem Zurückschwenken in einen konventionellen Alltag. Jedenfalls wird sie für Jouve der „unmittelbaren Wahrhaftigkeit“ des Bühnengeschehens nicht gerecht. Man könnte ihm Antworten, dass hier die Auflösung der Gegensätze geschieht, die Glättung der aufgewühlten Emotionen. Natürlich wird das Publikum unmittelbar nach der Höllenfahrt das Theater „betroffener“ verlassen, nach der anschließenden Schlussszene aber vielleicht „ausgeglichener“? Die Scena ultima stellt das richtige Verhältnis wieder her – und bildet, bezogen auf die ähnlich zweigeteilte Ouvertüre, den symmetrischen Abschluss.

Nachvollziehbar sind seine Anmerkungen zum „Viva la libertà“ – wo plötzlich Don Giovanni sowie seine „Jäger“ dieselbe Sprache zu sprechen scheinen. Für Jouve läuft es auf den Unterschied zwischen „Freigeist“ und „Freiheit“ hinaus – für dessen Erklärung er auf den historischen Kontext zurückgreift. An solchen Stellen merkt man dann doch, dass diese Werke, auch Mozarts „Don Giovanni“, nicht in Vorausschau auf ein Publikum des 21. Jahrhunderts verfasst worden sind. (Eine Binsenweisheit, die heute nicht mehr zur Allgemeinbildung gerechnet werden darf.) Die Naivität der „Erzählung“, die nichts von einem Subtext weiß (um den Jouve sich sehr bemüht), ist jedenfalls der ursprünglichere Träger des Sinnzusammenhanges. Seine Aussage – und das zeigt sich schon bei E.T.A. Hoffmann – zu verdeutlichen, reduziert die semantische Vielfalt, richtet, könnte man sagen, die schwirrenden Atome wie eine Magnetnadel nur in eine Richtung aus. Hatte Donna Anna etwas mit Don Giovanni? Die Sache wird für alle Zeiten in Schwebe bleiben, und man stößt hier auf eine Art von quantenphysikalischem Phänomen: die Messung determiniert das Ergebnis.

Jouve ist 1976 in Paris verstorben.

Pierre Jean Jouve: Mozarts Don Giovanni. Aus dem Französischen von Renate Lichtfuss. Mit einem Nachwort von Werner Jost. Residenz Verlag.Salzburg und Wien 1990.

Don Giovanni-Portal - anlässlich des Mozartjahres 2006 - © Dominik Troger