NEUE WIENER HOFOPER 1869
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Kapitelübersicht

Der Aufbau des Repertoires im neuen Haus
30.Mai 1869 bis Saisonende Mitte Juli

III. "Fidelio" am 10. Juni 1869

Die sehr gut besuchte ersten Fidelio Aufführung, brachte die Vor- und Nachteile des neuen Hauses noch einmal auf den Punkt: der ungewohnten Akustik fielen die genreartigen Szenen des ersten Aktes ebenso zum Opfer wie die meisten Protagonisten. Die "leichten" Stimmen Jaquinos (Herr Campe) und Marzellines (Caroline Tellheim) hielten sich wacker, waren aber beständig in Gefahr, vom großen Raum verschluckt zu werden. Nur Johann Nepomuk Beck's Pizarro konnte diesen Anforderungen standhalten und mit mächtiger Stimme und dramatischer Darstellung dieses Manko wettmachen. Auch Gustav Walter's gewürdigter Florestan litt darunter. Sehr gut zur Geltung kamen die Chöre und die Aufführung der großen Leonoren-Overtüre im Zwischenakt, die mit begeisterndem Schwung durchgeführt eifrig bejubelt wurde. Theodor Jachimowicz hatte für die Dekorationen gesorgt, Franz Gaul für die Kostüme.

Gespannt war man natürlich, wie sich das frischgebackene Ensemblemitglied Amalie Friedrich-Materna schlagen würde. Sie hatte ja erst vor kurzem die Leonore als Gast im alten Hause gesungen und war darauf - um die Sängerressourcen im neuen Hause zu erweitern - engagiert worden. Die neue Leonore wurde den Erwartungen im großen und ganzen gerecht. Lediglich bei der großen Arie vermisste man noch die notwendige Gestaltungskraft.

Friedrich-Maternas Engagement war ja schon zuvor vom Feuilleton ausgiebig besprochen worden. Dem Engagement einer neuen Sängerin an der Hofoper, noch dazu für das "Kern"-Repertoire, wurde damals noch breiter Raum gewidmet. Heutzutage würde es wohl mehr als befremdlich anmuten, wenn sich eine Tageszeitung auf der Titelseite mit solchen "Nebensächlichkeiten" abgäbe.1 (Da gibt es höchstens hin und wieder bösartige Glossen zum Fernsehprogramm.) Es ist dies auch ein Beweis für den hohen Stellenwert der Oper im 19. Jahrhundert, dem "Multimedia"-Spektakel der damaligen Zeit.

Was die szenische Ausstattung betrifft, so meinte etwa das Neue Wiener Tagblatt, dass man sie schon bei der "überhasteten Vorstellung von ‚Romeo und Julia' " hätte bewundern können, "da die zwei Hauptdekorationen, der Gefängnishof und der freie Platz mit der Reiterstatue, in dieser Oper bereits verwendet wurden. Die erste dieser Dekorationen - der Gefängnishof - ist entschieden zu hell und unruhig gehalten; für den ersten Fehler können wir nur darin eine Entschuldigung finden, daß der Dekorateur, Herr Jachimowicz, das beseligende Gefühl des ‚Sonnenscheins' motivieren wollte, das Beethoven von den Gefangenen so schön besingen läßt. Der freie Platz mit der Reiterstatue konnte füglich auch in ‚Romeo' verwendet werden, er hätte auch in ‚Hans Heiling' oder im ‚Trovatore' nicht gestört, weil er sich an gar keinen Styl, an keinen Lokalcharakter hält. Neu war der Kerker, der aber jedenfalls zu wohnlich aussah. Die Kostüme waren neu. Setzt man die Zeit des ‚Fidelio' in die des dreißigjährigen Krieges, so sind sie wohl im Ganzen richtig; die Kostüme des Volkes jedoch sind nicht charakteristisch. Die Marcelline sieht zu modern, Rocco possierlich, Fidelio zu geputzt aus und Florestan macht in seinem schwarzen sorgfältigen Anzuge nicht den Eindruck eines fast zu Tode gemarterten Gefangenen. (...) Das Haus war gut besucht, das Publikum aber nach dem ersten Akt mehr im Treppenhause und in den Vestibules zu sehen, als auf den Plätzen im Opernsaale."

1 Immerhin waren im Frühjahr 2002 eine erneute kurzfristige Absage von Luciano Pavarotti an der New Yorker Met und massive Krankheits- bzw. Rücktrittsgerüchte bspw. der Tageszeitung "Kurier" ein Farbbild plus Kastentext auf der Titelseite Wert. Dh. so ganz haben sich die Zeiten doch nicht verändert...
© Dominik Troger 2002

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