WIENER HOFOPER 1881-1897
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Wiener Hofoper 1881-1897

Zum 100. Todestag von Hugo Wolf (1860-1903) - Teil 2

Hugo Wolf war Mitte der 1880er Jahre für das Wiener Salonblatt als Musikkritiker tätig. Wolf beschrieb in ihnen sowohl Konzertbesuche als auch Opernaufführungen. Besprochen werden nachstehend u.a. Aufführungen, von „Lohengrin“, „Tristan und Isolde“, „Tannhäuser“, „Meistersinger von Nürnberg“.


1. März 1885.

»Der Barbier von Sevilla«.

Frau L'Allemand gab die Rosine. Anfänglich glaubten wir, eine Puppe vor uns zu haben. In der Mittellage beginnend, klang ihre Stimme wie die eines quiekenden Kindes. Gar bald aber trat zugunsten der Sängerin eine unerwartete Wendung ein. So wie Frau L'Allemand den höheren Regionen der Töne zusteuerte, gewann ihre Stimme an Intensität, Schärfe und auch ein weniges an Wohllaut. Sie ist Virtuosin im Koloraturgesange; leider aber ist sich Frau L'Allemand ihrer Virtuosität nur zu sehr bewußt. Nie läßt sie sich die Gelegenheit entwischen, ihre Künstelei wohl oder übel anzubringen. Da wird jede Pause, jede Fermate benutzt, Kadenzen, Triller, Rouladen usw. einzulegen. Koloratur, wohin man sieht, wohin man hört, wohin man greift. - Ein beharrlicher Landregen im Gebirge hat etwas Schreckliches, Furchtbares, Zerstörendes. Er erzeugt im Menschen Unlust, Ungeduld, Melancholie. Man wird zum Misanthropen, zum Pessimisten, zum Menschenfresser. Man beginnt dem Teufel mehr Aufmerksamkeit zu erweisen, als es für einen Gentleman schlechterdings schicklich ist, denn man flucht in allen möglichen Tonarten, - die aus dem F eignet sich allerdings am besten. Man flucht in volkstümlichen, in gelehrten Flüchen; man ergeht sich hierbei in Zitaten oder verläßt sich auf eigene Eingebungen, wobei es einem freisteht, in kurzen Aphorismen oder in breiten Bildern und Gleichnissen zu fluchen. Der mehrerer Sprachen Kundige genießt nebstdem noch den Vorteil, durch Übersetzen eines und desselben Fluches in das italienische, spanische, englische, französische, türkische, holländische (obwohl die letzteren wegen ihres bekannten Phlegmas mit der Teufelgrammatik auf keinem besonders vertrauten Fuße leben) seinen Unmut sechsmal sich vom Leibe zu fluchen. Oder auch, man beschäftigt sich unter solchen Umständen aus purer Verzweiflung über Langeweile mit Dichten oder Komponieren, wohl auch mit beidem zugleich. Aber so groß, so bedeutend, so monumental Herr Richard Kralik in seinen Augen auch dastehen mag, ich fürchte, daß seine dichterische Phantasie doch gar zu lange unter Wasser geblieben, daß die einschläfernde Wirkung eines nimmermüden Landregens sich doch gar zu treulich in seinen »Verselein« abspiegelt, daß somit auch seine Aussichten: Hafis, Pindar und Walter von der Vogelweide gleichzukommen oder ihnen gar eins vorzutun, leider zu Wasser werden müssen. - Wenn schon nach anhaltender Dürre ein tüchtiger Regen fruchtbringend sein kann, ist doch bei allzu großer Geschäftigkeit des flüssigen Elementes ebenso leicht das Gegenteil zu befürchten. Nun gebe ich gerne zu, daß die sogenannte poetische Ader des Herrn Kralik recht sehr an Dürre und Trockenheit leidet, eine ganz natürliche Erscheinung, daran wir nichts auszusetzen finden; um so schmerzlicher muß es aber jeden gefühlvollen Menschen und an solche appelliert wohl das »Büchlein der Unwesenheit« berühren, wenn eine so geordnete Natur, wie die des Herrn Kralik, auf das Barometer seiner Stimmungen so schlecht sich versteht, - um, den geeigneten Augenblick zu einem vielleicht halbwegs erträglichen Produzieren verpassend, erst dann die Flügel seiner lieblichen Dichterseele auszuspannen, wenn sie unter der Wucht der verzweifeltsten Langeweile zusammenschrumpfen müssen und hierdurch den unförmigen Stümpfen der Pinguine nicht unähnlich werden. Ach, welche Verbrechen, welche Gräuel hat ein Landregen in der Einsamkeit nicht auf dem Gewissen! Wie bringt er den Menschen herab, wie entstellt er ihn.- Aber (und das wollt ich eigentlich nur sagen) ich will lieber mit dem Teufel einen Pakt eingehen oder mich zeitlebens unter die Traufe stellen, als einen ganzen Opernabend hindurch Koloraturen anhören. So graziös, so anmutig sie aus der Kehle der Frau L'Allemand hervorquellen mögen, auf die Dauer bekommt mans satt. Hingegen spielt Frau L'Allemand allerliebst, und als Rosine wußte sie so schelmisch und kokett mit den Blicken herumzuwerfen, dem eifersüchtigen Bartolo so unschuldsvoll und dabei doch spitzbübisch in die Augen zu schauen, daß es nur eine Freude war. Ausgezeichnet, wie in allen komischen Partien, war Herr Mayerhofer (Dr. Bartolo). Sein würdiger Bundesgenosse Basilio (Herr Reichenberg) war bei einer fast üppigen Laune. Respekt vor seiner Leistung. Herr Horwitz hat kein Talent zur Komik, daher sein Figaro ziemlich frostig ausfiel.

In der »Regimentstochter« sang Frau L'Allemand die Marie mit derselben Bravour, wie vorher die Rosine im »Barbier«. Wiederum war es ihre Darstellung, namentlich ihr Mienenspiel, das mir an der Leistung des Gastes als das beachtenswerteste däuchte. Die rauhe Herzlichkeit des Sergeanten Sulpice fand in dem Vortrage des Herrn Reichenberg ein gutes. Echo. Auch Herr Schittenhelm (Schweizer) fand sich mit seiner Rolle gut ab. Schließlich sei dem 2. Regimente für seine stramme Haltung dem wehrlosen Schweizer gegenüber noch ein summarisches Lob gespendet. In »Mignon « verabschiedete sich Frau L'Alle mand von unserem Publikum. Eine glücklichere Wahl, als die Rolle der Philine, hätte L'Allemand kaum treffen können. Wie reizend sah sie aus, wie kokett! Ist die Philine unter den übrigen krüppelhaften Figuren des schauderhaften Sujets die einzig-natürliche, so war sie uns infolge der vortrefflichen Darstellung der Frau L'Allemand geradezu tröstlich. Die Leistungen unseres Sängerpersonales in dieser Oper sind dem Publikum ohnehin bekannt.
(...)

15. März 1885

»Tannhäuser« von Richard Wagner.

Frau Papier sang zum ersten Male die Elisabeth und wie wir gleich hinzufügen wollen, mit großem Erfolg. Die Vorzüge, aber auch die Schwächen dieser so sehr begabten Sängerin traten, traten diesmal deutlicher denn je hervor, sie hielten sich sozusagen die Wage, so weit überhaupt ein Kompromiß zwischen dem einerseitigen Hervortreten des gesanglichen und dem anderseitigen Zurückbleiben des mimischen Ausdruckes als möglich angesehen werden kann,- ohne einen unbefriedigenden Eindruck auf den Zuschauer zu hinterlassen. Ein bemerkenswerter Übelstand dünkte uns die ganz wunderliche Zerstreutheit in Blick und Miene, in die Frau Papier bei der ergreifendsten Wiedergabe des musikalischen Ausdruckes zuweilen verfiel. Wir müssen darin einen fühlbaren Mangel an schauspielerischer Befähigung erkennen. So sehr Frau Papier ihre Rolle musikalisch beherrscht, so unsicher trat sie derselben als Darstellerin entgegen. Mit geschlossenem Auge ihrem Gesange folgend wird Frau Papier auf jeden Zuhörer überzeugend wirken. So aber meint man mitunter nur eine Komödie zu erleben. Da wir in der Oper nun einmal den Sänger von dem Schauspieler nicht zu trennen vermögen, dem ersteren vor dem letzteren aber nicht den allergeringsten Vorrang einräumen, schöne, volle, üppige lockenhelle, kristallreine Stimmen (und wie man sie sonst noch zu nennen pflegt) für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines Opernsängers nur in zweiter Linie gelten lassen können: so darf nur derjenige Ansprüche auf Vollkommenheit erheben, dem die Kunst des Vortrages in demselben Maße zu eigen geworden, als die der Darstellung. Nicht, daß wir gegen schöne Stimmen eingenommen wären - - o ganz im Gegenteile, sobald diese schöne Stimme als Mittel gebraucht wird, den musikalischen Ausdruck zu erhöhen oder ihm ein bestimmtes Kolorit zu verleihen. Gemeinhin gilt aber die schöne Stimme als die Hauptsache. Das nun heißt: ein Mittel zum Zwecke machen. Von diesem verkehrten Standpunkte ausgehend, beurteilt nun das Publikum und nicht minder die Kritik den Singsang des Herrn Sommer. Noch immer gilt ihnen eine schöne Stimme mehr als ein schöner Gesang. Und doch, wie tief steht das Verdienst des Herrn Sommer unter den soviel wie ignorierten Leistungen des Herrn Lay. Herr Lay besitzt Humor genug, in der beliebten Trinkszene im Vampyr über seine Stimme zu spotten, wenn er sagt: »Ich singe auch, aber nicht immer schön.« Wollte doch Herr Sommer nur annähernd so schön singen und hätte er auch noch im übrigen die Verdienste des letztgenannten; ich weiß es so gut, als der und jener, daß die Stimme des Herrn Lay mit der des Herrn Sommer in gar keinen Vergleich zu bringen ist; aber was Herr Lay singt, erhält sein charakteristisches Gepräge, und darin ist das eine Hauptverdienst des Opernsängers zu suchen.

Frl. Schläger (Venus) überraschte uns diesmal in einem Phantasiekostüme, an dem wir aber leider etwas. auszusetzen haben. Der Schlitz auf der einen Seite ihres Kleides möge zugenäht werden. - Zu so unwürdigen Künsten kann eine verwelkte, Buhlerin greifen, um einen entnervten Lebemann zu reizen - einer Venus ziemen sie nicht. Auch ist Venus nicht die Göttin der Unkeuschheit, sondern der Liebe. Herrn Winkelmanns gelungenste Rolle ist ganz entschieden der Tannhäuser. Nur einige Worte über sein zu eifriges Spiel nach der Verwandlung im ersten Akte, das mir nicht gefiel. Im höchsten Erstaunen überkömmt den Menschen eine Art Erstarrung. Herr Winkelmann hat dies wohl begriffen, denn er blieb längere Zeit wie angewurzelt in verzückter Stellung. Aber war es geboten, einmal über das andere Mal die Hände in Bewegung zu setzen, um Rührung, freudiges Erstaunen auszudrücken, gibt es nur Hände, innere Vorgänge auszudrücken? und das Auge? die Mienen? die Haltung des Körpers überhaupt? Ein zaghafter, energischer, lebhafter, zaudernder Schritt nach vor-, nach rückwärts, zur Seite usf., kann er das konventionelle Händeringen nicht überflüssig machen oder doch einschränken? Da wußte sich Herr Schittenhelm, der diesmal den Walter sang, besser zu behelfen., Mit heiterer oder düsterer Miene folgte er dem Sängerkriege. Gewöhnlich lächelte er schelmisch wie die Aprilsonne, aber oft, wie gesagt, sah er auch dräuend wie gewitterschwangere Wolken der Entwicklung zu. Der ganze Sängerkrieg malte sich in seinen Mienen ab, was um so mehr sagen will, da Herr Schittenhelm nicht nur für sich., sondern auch für seine, Kollegen spielte. Der Himmel allein weiß es, ob ein Genie in Herrn Schittenhelm steckt.

Margarethe (Faust) von Gounod. Herr Baer vom Hoftheater in Darmstadt debutierte auf unserer Hofbühne als Faust. Der konventionelle Operntenor, nicht gut, nicht schlecht, »anständig «. In seinem phantastischen Werke »La damnation de Faust« läßt Berlioz den Helden der Legende in Ungarn, an den Ufern der Donau, verweilen - dem Rakoczy.Marsch zuliebe den Berlioz bekanntlich - oder den Herren Philharmonikern und ihrem Dirigenten auch nicht bekanntlich, in seiner genialen Art ausgearbeitet und instrumentiert und schließlich in seine Verdammung Fausts aufgenommen. Die Textverfasser der »Margarethe« konnten, da sie sich gewiß recht streng an die aristotelischen Einheitsregeln hielten, einen ähnlichen Luxus wie Berlioz sich nicht erlauben. Hingegen gelang Herrn Baer , was der besseren Einsicht der Herren Textverfasser als unstatthaft erscheinen mußte. Er klebte sich, allerdings nicht in der Absicht mit dem Einfall Berlioz' zu konkurrieren, einen wohlgewichsten, martialischen Schnurrbart unter die Nase, wodurch sein Aussehen dem eines Panduren nicht unähnlich ward. Ein Umstand, der die Textverfasser sowohl, als den Komponisten der Margarethe ziemlich ungerührt lassen dürfte, während uns Deutschen solche »Pikanterien « einigen Spaß macht.

29. Marz 1885

Ein jeder Opernsänger, der sich anschickt, auf fremden Bühnen zu gastieren, möge wohl bedenken, daß er sich in ein feindliches Lager begibt, daß er demjenigen Sänger, dessen Rollen er (der Gast) zu seinem Debüt erwählt, notwendigerweise den Krieg erklärt. Ich sage notwendigerweise, weil die wenigen Ausnahmen unter denjenigen Sängern und Komödianten, deren Charakter nicht aus Eitelkeit, Neid und Selbstliebe zusammengesetzt ist, die Regel dieser Annahme bestätigten. Da jedoch glücklicherweise ein jeder sich als (von der Regel) ausgenommen betrachtet - ob aus Eitelkeit und Selbstliebe sei einstweilen dahingestellt - so hat es weiter keine Gefahr für den Einzelnen. Nun wird kaum ein vernünftiger Mensch den andern betrügen, ohne mindestens den Wunsch oder die Hoffnung zu nähren, seine Gegner zu besiegen; hiezu kann er berechtigt oder auch nicht berechtigt sein, je nachdem ihm die Mittel und Wege zu Gebote stehen, seine Wünsche zu realisieren, seine Hoffnung in Gewißheit zu verwandeln; daher ein Schlaukopf nur dann losschlagen kann, wenn er sich hinlänglich sicher fühlt. Wird er sich dabei nur auf seine eigene Kraft und Überlegenheit verlassen? Wenn die Welt nur zwei Menschen oder zwei Nationen bevölkerten - ganz gewiß! Unter den obwaltenden Umständen wird er aber genötigt sein, auch Politik zu treiben. Das bestgeschulte, tapferste Heer unter dem heldenmütigsten, geschicktesten Anführer, - was vermag es gegen die Ränke eines verschmitzten Diplomaten, darum Politik, Politik! will man nicht zum Selbstmörder werden.

Herr Ondry vom Stadttheater in Pest war unpolitisch genug, im »Hamlet« von Thomas auf unserer Opernbühne zu debütieren. Das war ein großer Mißgriff. Herr Ondry hatte sich vorher erkundigen sollen, in welchem Renommee der »Hamlet« beim Publikum, in welchem bei der Kritik stehe, er hätte daraufhin erfahren, daß »Hamlet« fast nie gegeben wird, daß das Publikum diese Oper mehr fürchtet, als die Cholera, und daß die berühmte Schulweisheit unserer Kritik es schon so weit gebracht hat, dieses Werk zu verachten. Hernach debütierte Herr Ondry in der »Margarethe« (Faust) von Gounod. Das war erst recht ein Mißgriff, da kürzlich erst Herr Baer in dieser Oper sein Gastspiel absolviert, und die Kritik somit gezwungen ward, dieses Werk zweimal in rascher Aufeinanderfolge zu Hören. Das Publikum, welches sich heute an der »Margarethe« den Magen verschlemmt, läßt sich vielleicht morgen von »Mephistopheles« wieder herstellen. Aber der Kritiker hütet sich wohl, mit dem »Mephistopheles« anzubinden, ausgenommen, wenn er muß. Auch kan mans einem Rezensenten kaum verübeln, wenn er nach zweimaligem Anhören der »Margarethe« endlich die Geduld verliert.

Bei der gründlichsten Verstimmung soviel Objektivität sich zu wahren, um dem Sänger die nötige Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, seine Leistungen nach Verdienst zu beurteilen, das heißt, wenn sie wirklich gut sind, dies zu erkennen, Essig mit Honig zu genießen und dabei herauszufinden, daß der Honig von vortrefflicher Qualität sei, anstatt den ganzen Hexenrudel mit tausend Flüchen gepfeffert zum Teufel zu wünschen, wie man wohl gerne möchte - das mitzumachen ist, offengestanden, eine ekelhafte Geschichte. Wir wollen nicht annehmen, daß Böswilligkeit das Motiv war, weshalb Herr Ondry »Hamlet« und »Margarethe« (Faust) in sein Repertoire eingeschlossen, selbst nicht des Spaßes halber. Oder war es ein gesteigertes Selbstbewußtsein von seinem Können, das Herrn Ondry keine Rücksicht auf die Wahl der Opern, in denen aufzutreten er für gut hielt, nehmen ließ? Oder aber war es der gewohnte Schlendrian, wie er in den Operntheatern gehegt und gepflegt wird (diesen eigentlichen Treibhäusern des Schlendrians), der ein ernstliches Befassen mit höheren Dingen, selbst wenn es den daran beteiligten Personen zum augenscheinlichen Vorteil gereichen würde, als zweck- und fruchtlos erachtet, nur weil dabei einiges Nachdenken erfordert wird? Sei dem, wie ihm wolle. - Genug, wir können trotz aller Bedenken und Beschwerden Herrn Ondry ein ziemlich gutes Zeugnis ausstellen. Wohl ausgebildetes, dabei kräftiges Organ, etwas monoton im Vortrage, zuweilen sogar roh, manchmal aber sehr zutreffend, natürliche Bewegungen, wenn auch nicht immer der Situation angemessen, mitunter sogar recht opernhaft, zu deutsch: marionettenhaft, lebendiges Mienenspiel, meistens auch richtig und im allgemeinen eine gute Haltung - dies im kurzen eine Charakteristik der Leistung des Herrn Ondry. Dasselbe gilt von seinem Salomo in Goldmarks Königin von Saba. Die schrecklichen Anforderungen, die Goldmark an die Stimmen der Sänger stellt, wurden von unseren einheimischen Kräften fast spielend überwunden. Frau Kupfer gab die Sulamith überraschend gut; vortrefflich Herr Winkelmann den Assad. Mit etwas mehr Aufwand an innerlicher Glut, daß die Gebärde, als der greifbare Ausdruck eines wirklich empfundenen inneren Vorganges, wenigstens den Zug von Unmittelbarkeit, wenn schon auch nicht den der Schönheit gewinne, sollte Frau Papier die Königin von Saba darstellen, und sie wird ohne Rivalen in dieser Rolle glänzen. Das verklärte, schönere Bild der märchenhaft berückenden Königin duftet uns schon bei dem ersten Tone, den Frau Papier anschlägt, entgegen. Es gilt aber auch, die sinnliche Erscheinung festzuhalten, und da ist es mit der Maske allein nicht getan, so gut auch Frau Papier dieselbe gewählt, so schön sie darin aussah. Warum Frau Papier auf einem roten Streifen das Publikum um Nachsicht ersuchte, mit der Begründung, sie sei indisponiert, ist mir unerklärlich. Wenn Indisposition soviel bedeutet, als ganz bei der Sache zu sein, Stimme und Animo wie nur je besitzen, so möchte ich gerne den Abend erleben, an dem Frau Papier dem Publikum ankündigt, daß sie diesmal besonders disponiert sei.

24. Mai 1885

Lohengrin

Herr VogI aus München ist unstreitig der geistreichste Wagner-Sänger. Kein Blick, keine Gebärde, keine stimmliche Nuance, die nicht gehörig motiviert wäre, alles an seiner Darstellung gewinnt Bedeutung, atmet wirkliches Leben. Zuweilen allerdings konnte man eine gewisse Absichtlichkeit in seinem Spiele bemerken, gleichsam, als wollte Herr Vogl den Zuschauer auf eine besondere Feinheit seiner Darstellung aufmerksam machen. Das Spiel des Mimen jedoch sei ein Zifferblatt, innere Bewegung anzeigend, aber nicht ein Uhrwerk, daß diese Bewegung selbst aufdecke, sagt Börne. In unserem Falle ist die Musik das Uhrwerk, die gewiß nichts unaufgedeckt läßt, zumal die Leitmotive den Zuhörer beständig in Atem halten, seine Aufmerksamkeit auf die szenischen Vorgänge der Bühne hinlenken; Herr Vogl möge sich an dem Zifferblatte genügen. Noch eines: die Stelle: »Dein Lieben muß mir hoch entgelten« bis »böt mir der König« usw. hat Herr VogI im Rhythmus so scharf akzentuiert und dabei so leicht weg gesungen, daß sie hart an den Bänkel streifte. Wenn mich überhaupt eines an der Gesangsweise des Herm Vogl stören könnte, so wäre es noch am ehesten das kurze Abbrechen eines Tones nach starkem Anschwellen desselben. Diese Vortragsmanier kann unter Umständen von unvergleichlicher Wirkung sein im Rezitativ oder in aufregenden Musikstücken heftigen Charakters, aber nicht in der Kantilene, nicht im getragenen Gesange. Hier muß jeder Ton abgerundet sein, d. h. dem crescendo darf auch das diminuendo nicht fehlen. Herr VogI, der auch ein großer Gesangskünstler ist, weiß dies besser als ich, aber er weiß nicht immer, wann er fehlt. Auch die Erzählung zum Schlusse der Oper hätte Herr VogI in diesem Sinne ruhiger, sanfter, geheimnisvoller vortragen können. Er hat zuviel Leidenschaft hineingelegt, er gab sich zu menschlich. Lohengrins Auge schwebt während der Erzählung wie abwesend über den Kreis seiner Umgebung. Sein Geist träumt von den Wundern Monsalvats, derweil sein irdischer Teil noch unter den gemeinen Sterblichen weilt, um zum letzten Male zu ihnen zu sprechen. So soll auch seine Stimme nicht anders sein, als das Organ, das den holden Traum seines Geistes in verklärter Weise austönt. Welcher Duft, welche Poesie des Gesanges gehört aber nicht dazu, solche Anforderungen zu verwirklichen! Nichtsdestoweniger verdient der Lohengrin des Herrn VogI die wärmste Anerkennung, und wenn das Publikum ihm mit Beifall überschüttete, so hatte es ausnahmsweise wiederum einmal recht getan.
Frau Sucher als Elsa war nicht ganz in ihrem Fache. Die Herbheit ihrer Stimme, sowie die allzu leidenschaftlichen Akzente im Vortrage, befähigen sie nicht sonderlich für diese Rolle. Wenn Shakespeare sagt: »Schwachheit, Dein Name ist Weib« so gilt dies ganz besonders von Elsa. Frau Sucher faßte diesen Charakter zu heroisch auf. - Ortrud gab Frau Papier mit lobenswertem Eifer, d. h. sie bemühte sich nach Kräften, dem Zuschauer eine recht schlimme Meinung über den Charakter der Ortrud beizubringen. Nach der ernstlich bösen Miene der Frau Papier zu schließen, konnte man in der Tat schon im ersten Akt das böse Prinzip in Ortrud verkörpert sehen. Nur einmal glaubte Frau Papier dem unholden Ausdrucke ihrer Mienen und Gebärden eine vorteilhafte Wendung zum Freundlicheren geben zu müssen - meines Bedünkens nach ein voreiliger Schritt, den zu berichtigen ich um so mehr mich versucht fühle, als die Mehrzahl der Darsteller dieser weiblichen Bosheit denselben Fehler begehen. »Wie er durch Zauber zu Dir kam!« füstert Ortrud der vertrauensseligen Elsa ins Ohr. Letztere, über diese Ohrenbläserei ungehalten, wendet sich erst mit Grauen von Ortrud ab.
Aber gar bald verdrängt die Stimme des Mitleids den aufkeimenden Unwillen Elsas. Ein kurzes Zwischenspiel von drei Takten schildert diesen Vorgang in ergreifend beredter Weise. Die Darstellerin der Ortrud schien jedoch diese musikalische Phrase auf sich bezogen zu haben, denn unmöglich konnte sie durch ein anderes Motiv bewogen worden sein: den plötzlichen Übergang siegesgewisser Haltung in heuchlerische Demut zu rechtfertigen, als durch eben jenes angeführte Zwischenspiel im Orchester. Diese Auffassung ist aber grundfalsch; denn nicht nur verliert durch Annexion anderen Leuten angehöriger Zwischenspiele ein solches seine Bedeutung für den rechtmäßigen Vertreter desselben, es kommt auch der Eskamoteur selber in eine schiefe Stellung. Auf die heuchlerische Gebärde der Ortrud hin, die in diesem Falle etwa sagt: »Bitte um Entschuldigung, wenn ich mir zu viel Freiheiten herausgenommen«, kann Elsa eigentlich nur so ungefähr entgegnen: »O bitte, bitte! Du bist zwar etwas weit gegangen: im Grunde genommen aber verstehen wir uns doch; reden wir nicht mehr davon. Deine Hand, Verehrungswürdigste!« - Statt dessen aber spricht Elsa, wie jedermann weiß, das pure Gegenteil. Wieso? Ganz einfach. Ortrud hat ihre finster drohende, tückisch lauernde, beobachtende StelIung solange zu bewahren, bis Elsa sie mit freundlicher Gebärde einlädt, bei ihr einzukehren. Dann gewinnt der Zwischenfall, dann gewinnt die Ansprache »Du Ärmste kannst wohl nie ermessen« Sinn und Bedeutung.
Seit Herr Scaria »europamüde« geworden, hat's ihm auch den Enthusiasmus, die Liebe zur Kunst verschlagen. Was ist ihm Hekuba? Das Geschäft hier trägt: nicht viel. Die klingenden Schätze der jungfräulichen Erde gelten ihm mehr. Amerika ist eine gute Schule für Handwerker, aber eine schlechte für Künstler.- Nachdem Herr Scaria zwei Akte hindurch sich ausgeruht, hielt er es schließlich doch für gut, im dritten Akte sein böses künstlerisches Gewissen zu beschwichtigen, wo nicht zu übertönen, denn er sang die Ansprache an den deutschen Heerbann vom Roß herab
mit solchem Feuer, solcher Kraft, daß wir über diesen plötzlichen Aufschwung völlig verblüfft waren. Selbst der Chor, der seine Kehlen bis dahin sehr geschont (man kann es diesen wackeren Leuten kaum übel nehmen in Anbetracht ihrer täglichen Sklaverei), wurde durch das Beispiel des Herrn Scaria derart fasziniert, daß es schien, als vergesse jeder für Augenblicke seines Choristentums. Ein frischer Hauch der Begeisterung durchwehte diese Reihen, und ein Sturm von Beifall, der aus jedem Winkel des Hauses brauste, lohnte ihre Bemühung. Daraus läßt sich eine gute Lehre ziehen, die sich Kapellmeister, Sänger und Choristen sehr zu Herzen nehmen mögen. Sie spricht aus dem geschilderten Vorgange beredt genug zu ihnen.
Herr Horwitz (Telramund) möge mit seinen Gebärden sparsamer umgehen. Er ficht, schlägt, schneidet, sägt die Luft, daß es scheint, als kämpfe er mit Gespenstern. Im übrigen war er gut. Herr Felix gab diesmal den Heerrufer. Ein Heerrufer soll nicht nur kräftig singen, er soll auch deutlich sprechen können. Herr Felix kann weder das eine noch das andere. Das erstere hätten wir ihm gerne nachgesehen, wenn er nur das letztere gekonnt hatte. Ein Opernsänger, der nicht auch deutlich spricht, ist höchstens gut, Solfeggien oder Jodler zu singen. Wer aber Wagnersche Rollen singen will, möge vorerst sprechen lernen.
Der Regisseur möge Sorge tragen, daß die Finsternis zu Beginn des zweiten Aktes intensiver sei. So schwarze Ränke, wie sie Ortrud spinnt, gedeihen nur bei tiefschwarzer Nacht.

Eine gestrichene Stelle in der Partitur ist mir ganz besonders aufgefallen; sie gereicht der Gewissenhaftigkeit und dem Verständnis des Kapellmeisters zur besonderen Ehre. »Nur eine ist's – der muß ich Antwort geben: Elsa« - Strich / bis - »Vertraue mir!«
Jetzt bitt' ich für einige Augenblicke um Aufmerksamkeit. Friedrich von Telramund, von Lohengrin abgewiesen, wendet sich an den König, daß dieser die Frage an Lohengrin richte. Was nun Lohengrin dem Könige erwidern wird, das - sollte man doch glauben - werde Telramunds vollste Aufmerksamkeit beanspruchen. Aber mit nichten. Telramund bleibt keine Zeit, darauf zu hören, denn der verhängnisvolle Strich zwingt ihn, sich so schleunigst als möglich an die Seite Elsas zu schleichen und durch ein »Vertraue mir!« die Handlung wieder in Fluß zu bringen, während Lohengrin bei dem Ausrufe: »Elsa!« den König mit einer Schlauheit anzublinzeln sich genötigt sieht, was beiläufig soviel heißt als: na, na begreifst Du's endlich, Du Pfiffikus? Und diesen kompletten Unsinn wegen ein paar Minuten Zeitgewinnes!

31. Mai 1885

»Tristan und Isolde«

Herrn VogIs Tristan war eine von Anfang bis zu Ende durchgeführte Meisterleistung. Soweit aber hat es die Kunst des Darstellers noch nicht gebracht, die Verwüstungen des Rotstiftes wettzumachen, wie sichs die Herren Kapellmeister so gerne einreden möchten, wenn diese zu den Besseren gehören; denn die Böseren darunter strichen aus purem Egoismus, unbekümmert um das Werk und den Darsteller. Ich glaube sogar, daß einen wesentlichen Teil kapellmeisterlicher Vergnügungen das Streichen ausmacht. Nach den ausgesucht empörendsten Strichen zu schließen, scheint dieses Vergnügen diabolischer Art zu sein. Ein besonders wichtiges, zum Verständnisse der Handlung unerläßlich notwendiges Motiv streichen zu können, ist ein gefundenes Essen für biedere, ehrenwerte Kapellmeister. Angehende Kapellmeister dürfen künftighin nicht mehr zum Probedirigieren gelangen, um Beweise von ihren Fähigkeiten abzulegen, man wird sie probestreichen lassen. Dann seien sie nur nicht verlegen, verschämt, gewissenhaft. Bei Gott! es ginge ihnen übel, und wären sie alle Genies. Nur flink und dreist den Stift geführt, alles andere findet sich. - Bei den Indianern wird am höchsten respektiert, der die größte Anzahl abgehäuteter Skalpe aufweisen kann. Ganz gewiß genießt unter seinen Kollegen auch derjenige Kapellmeister das größte Ansehen, der die Partituren am meisten schindet, der sich rühmen kann, mit dem Rotstift (Rotstift! wie bezeichnend! der Stift rötet sich in dem Herzblute der Partituren, wühlt er in deren edlen Teilen) nicht nur die Kopfhaut, sondern gleich den ganzen Kopf zusamt den Füßen der Handlung rasiert zu haben. Die Indianer begnügen sich mit dem Skalp und sind Wilde. Die Kapellmeister zerfleischen ihre Opfer und sind gemeinhin Zivilisierte, ja, wollen auch Künstler sein. Künstler! - Herr VogI also konnte auch nicht Wunder wirken. Der geistreiche Strich, auf den der Kapellmeister nicht wenig stolz sein kann, zwang den Darsteller, sich so natürlich als möglich zu geben, wobei die Schuld selbstverständlich Herrn VogI nicht trifft, dieselbe lediglich nur der Kapellmeister zu verantworten hat. Der Strich beginnt nach der Frage Tristans »müht euch die« und endet drei Takte vor den Worten: »war Morold dir so wert« usw. Die Stelle »müht euch die« klingt wie leiser Hohn auf den vorhergehenden Ausruf Isoldens »Rache für Morold«. Was also konnte Tristan plötzlich bleich und düster machen und, also gestimmt, ihn bewegen, Isolden das Schwert zu geben, den rächenden Streich auf ihm zu führen? Doch nicht der leidenschaftliche Ausbruch Isoldens »Rache für Morold!« da er daraufhin nur mit kaltem Hohne erwidert. Hingegen erscheint die Düsterkeit Tristans sehr begreiflich, wenn Isolde ihm die Trefflichkeit des hehren Irenhelden, ihres Angelobten, der für sie in den Streit zog, mit dessen Fall auch ihre Ehre fiel, - usw. entgegenhält. Diese Auseinandersetzung motiviert allerdings die Trauer, die Resignation in den Worten Tristans: »War Morold Dir so wert« usw. Allein man fand es für gut, diese Stelle nicht nur in der Partitur, sondern auch in der Dichtung zu streichen, daß es auch darin recht düster hergehe. Nun aber liegt es für den Kapellmeister sehr nahe, dieses Dunkel einigermaßen zu erhellen, selbst bei Beibehaltung des Striches. Man nehme Tristan auch noch die höhnische Antwort und lasse ihm ein wenig Zeit, bleich und düster zu werden, so ist's gut und der Darsteller gewinnt Muße, auf natürliche Weise ohne Kämpfe und Grimassen den Ausdruck der Düsterheit anzunehmen. - Ob Herr VogI nicht besser getan hätte, die Expektoration »O Worme voller Tücke« usw. für sich zur Seite oder in den Zuschauerraum gewendet zu singen, als dieselbe an Isolde zu richten?
Vortrefflich war Frau Sucher (Isolde) im ersten und zweiten Akt; minder gut im dritten. Sie war zerstreut; konnte sich auch in den Liebestod nicht recht hineinleben. Herr Horwitz gab zum ersten Mal den Kurwenal. Er hätte diese Rolle wohl besser memorieren können, um weniger auffallend mit dem Orchester in Konflikt zu geraten. Soll das geistreich sein, daß Kurwenal während der Vision Tristans dem Publikum durch entsprechende Gebärden zu verstehen gibt: Tristan sei ein Narr? Wenn Herr Horwitz durch derlei »Pikanterien« (dieses liebenswürdige Wort habe ich einem Rezensenten entlehnt) diese Rolle würzen zu müssen glaubt, ziehe ich noch den ungesaIzenen Kurwenal des Herrn Sommer vor. Herr Fuchs mag ein ausgezeichneter Taktschläger sein - aber den »Tristan« dirigieren!! - Herr Fuchs ist ein Metronom.
»Rienzi«. Dieser imposanten, glänzenden Persönlichkeit auch das äußerliche Gepräge des Gebieterischen aufzudrücken, dazu fehIten Herrn VogI die geziemenden Mittel. Doch sah er noch immer stattlich genug aus, und wenn es ihm einerseits an Kraft gebrach, gleich einem Donnerwetter auf die Nobili loszufahren, so fehlte ihm andererseits nicht der Blitz des begeisterten Ausdruckes, der die Herzen des Volkes entzündete. Nebst Herrn VogI gIänzte vor allem Frau Papier, die der in ziemlich schwachen Umrissen gezeichneten Gestalt des Adriano ebenso scharf markierte Konturen, als warmes Kolorit zu verleihen wußte. Die männliche Haltung, die Energie ihrer Bewegungen, selbst das gelungene Kostüm und alle ihre sonstigen Vorzüge halfen mit, eine interessante und sogar sympathische Figur zu schaffen. Adriano ist unstreitig eine der allerbesten Rollen der Frau Papier. Hätte Frau Papier die Stelle: »Es war ein Colona!« anstatt der tiefen Töne wegen im ff mehr in sich hinein gesungen, so wäre auch nicht das mindeste an ihrer Leistung auszusetzen gewesen. Aber seine Schande in die Welt posaunen, das tun doch nur Büßer oder Verrückte; und Adriano ist weder das eine, noch das andere. Im übrigen war die Besetzung in bewahrten Händen.

20. September 1885

»Die Meistersinger von Nürnberg«

Warum wohl der Zerstörungstrieb unserer Bühnenleitung im Zerpflücken und Zernagen sein Meisterstück gerade an der duftigsten Blüte in dem Kranze der Wagnerschen Schöpfungen, an den »Meistersingern« übt? Nicht genug, daß man sich's eifrig angelegen sein läßt, alles beziehungsvolle und auch an sich kunst- und genußreiche Detail zu beseitigen, auch auf den Gang der Handlung, auf die Entwicklung der Charaktere erstrecken sich diese räuberischen Eingriffe. Der giftige Stadtschreiber z. B. muß sich bequemen, den Einfaltspinsel zu spielen. Beckmesser ist aber kein Einfaltspinsel; er wird es erst durch die drollige Situation, in die er späterhin gerät. Beckmesser ist ein durchtriebener Schelm und wie der Schelm ist, so denkt er: die Szene in Sachsen Stube (Ill. Akt) spricht deutlich genug hiefür. Aus jedem verborgensten Winkel seines galligen Herzens flüstert der Argwohn warnende Worte ihm zu. Und erst, als jedes Bedenken vor seiner prüfenden Zweifelsucht bestanden, gibt er sich zufrieden. Welcher Schelm aber wäre damit nicht mit Beckmesser dumm geworden? - In der verkürzten Szene jedoch, wie sie bei unseren Aufführungen üblich, geht Beckmesser wie ein Tölpel in die Falle, und die feinen Züge mit denen Wagner diesen Charakter so reichlich bedacht, gehen unverantwortlicherweise verloren. - Was von Seite der Mitwirkenden geschah, war für eine dergestalt zusammengestrichene Oper fast zu gut. Den Lehrbuben - allen voran - sei ein summarisches Lob zugedacht; der Krone derselben aber, David, noch ein ganz besonderes. Herr Schittenhelm, dem diese Rolle bisher zugefallen, wußte sich auf das Vorteilhafteste mit derselben abzufinden. David, obzwar ein Lehrbube, muß doch wie ein Meister singen können, denn die Anforderungen an den Sänger dieser Rolle sind schwieriger, als es wohl den Anschein hat. Aber auch der Darsteller findet Gelegenheit, auf jede Weise sich hervorzutun; Herr Schittenhelm hat dem einen wie dem anderen in möglichster Vollendung seine Kräfte geliehen. Wenn wir trotzdem der Leistung des Herrn Schrödter den Vorzug geben, ist es sein treuherzig ungeheucheItes Wesen, wohl auch der Schmelz seiner üppigen Stimme, im Vereine mit einem glücklichen Vortrag, zwei Gaben, die sich nicht erlernen lassen, was auch ein GesangsIehrer gegen das letztere einzuwenden hätte. Herr Schrödter war so recht »das treue Gesicht«, und hätte ihn hierin sein schauspielerisches und gesangliches Vortragstalent auch nicht in so wirksamer Weise unterstützt, er wäre doch unseres Beifalles sicher gewesen. Kurz, Herr Schrödter scheint uns der prädestinierte David zu sein.
Ein in jeglicher Beziehung ausgezeichneter Sachs war Herr Reichmann; nicht minder in seinem Fach Herr von Reichenberg (Pogner); bei weitem weniger allerdings Herr Horwitz (Kothner), der die Vorlesung der Tabulatur mit so affektierter Betonung absang, daß der Ritter wohl der Meinung sein durfte, er (Kothner) wolle eher das Buchstabieren lernen, als ihn mit den Regeln des Meistergesanges vertraut machen. Walter von StoIzing wurde von Herrn Müller gesungen und auch leidlich gut gespielt. Immerhin dürfen wir uns mit dieser Leistung begnügen, da uns keine bessere in dieser Rolle von unserem ständigen Personal geboten wird. - Wie man nur eine so schöne Rolle, als den Nachtwächter, einem obskuren Sänger anvertrauen kann! Wozu besitzen wir einen Rokitansky? Das eherne Organ dieses Bassisten müßte dem Nachtwächter sehr zustatten kommen. Oberhaupt dünkt mich Herr Rokitansky der einzige Sänger zu sein, der eine so dankbare Rolle zu singen würdig ist.
Und wer sang das Evchen? Daß Frl. Braga es nicht gesungen, war jedenfalls ein Gewinn, mochte diese Rolle wem immerhin zugefallen sein. Glücklicherweise aber nahm sich Frl. Lehmann der Pognerin an, und besser konnt es sich seit dem Abgange der Frau Ehnn gar nicht treffen. Wie beredt Frl. Lehmann gespielt! Welche Augensprachel Welches plastische Mienenspiel! Und welche Auffassung! Das Evchen der Frau Ehnn ist uns wiedergegeben in dem des Frl. Lehmann, womit aber nicht gesagt sein soll, daß Frl. Lehmann die Ehnn kopiert. Keine Spur davon. Sie geht ihren eigenen Weg »fest und unbeirrt«, und mit großem Vergnügen sind wir ihr dahin nachgefoIgt. - Soll man den Beckmesser des Herrn Lay auch noch besprechen? unnötig; denn die Welt hat nur einen Beckmesser, und wenn sie den kennen will, muß sie nach Wien kommen.