WIENER HOFOPER 1897-1907
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Wiener Hofoper 1897-1907

Richard Specht, 1870-1932, Musikkritiker & Mahler-Biograph, hat in seinem 1919 erschienenen Buch: “Das Wiener Operntheater. Von Dingelstedt bis Schalk und Strauß. Erinnerung aus 50 Jahren.“ eine intensive Schilderung der Hofopern-Direktion Gustav Mahlers hinterlassen.

„Es gibt Zahlen, die beredter und aufschlußreicher .sind als umständliche Berichte. Die Statistik der Jahrbücher der Hoftheater ist für den, der sie richtig zu lesen weiß, oft von verräterischer Indiskretion und aus der tabellarischen Aufzählung der eingetretenen und ausgeschiedenen Mitglieder, den Aufführungsziffern mancher Werke, den Jahreszahlen ihrer Wiederaufnahme, aus veränderten Titulaturen, dem Ausweis, wie oft jeder Sänger aufgetreten ist oder selbst aus veränderten Eintrittspreisen vermag der Neugierige oder gar der Wissende allerlei Tragödien und Komödien, Intrigen, Zurücksetzungen und Protektionen, Geschäftsgang und Kassenerfolge, künstlerische Taten und Untaten, Geschmacksentwicklungen, ja sogar gewisse Gesinnungen der leitenden Faktoren, Wertung als kostspielige Stars oder Utilités und manch andere heitere und betrübende Dinge herauslese. Ein paar Ziffern, die hier herausgegriffen werden, haben geradezu die Kraft eines Symbols. Sie betreffen die Spieldauer der im Repertoire erhaltenen Werke (wobei die Bemerkung nicht unterdrückt werden mag, daß diese Zahlen sogar Rückschlüsse auf die Dirigenten und die Richtigkeit ihrer Temponahme zulassen.) Im Jahre 1897, in dem Wilhelm Jahn schied, verzeichnet das Jahrbuch, daß Lohengrin und Tannhäuser, von 7 Uhr bis 10 Uhr 26 Minuten spielen, die Götterdämmerung von 7 Uhr bis 10 Uhr 30, also nur um 4 Minuten, die Meistersinger bis 10 Uhr 52, also um 24 Minuten länger als die erstgenannten Werke. Drei Jahre später dauert der Lohengrin von 7 Uhr bis 11 Uhr, die Götterdämmerung und die Meistersinger bis 11 Uhr 50 Minuten, der Tristan bis 11 Uhr 10 Minuten. Das bedeutet, daß die entstellenden Striche aufgehoben worden sind. Es bedeutet, daß einer gekommen ist, der die Verwegenheit hatte, die Ehrfurcht vor dem Werk höher einzuschätzen als die vor der Bequemlichkeit des Publikums. Der wagen konnte, was Hans Richters treue Sorge noch nicht wagen durfte. Gustav Mahler war gekommen.

Denkt man heute an die zehn Jahre seiner Opernführung zurück, zumal aber an deren Beginn, so staunt man zunächst über eines: wie es möglich war, daß einer zuwege bringen konnte, was theoretisch ein Ding der Unmöglichkeit ist - ein täglich spielendes Theater zu einer Festspielinstitution zu machen, die Reinheit der Meisterwerke zu restituieren und damit der Trägheit, der Indolenz, der Gewöhnung den Krieg zu erklären, das Publikum in einen verfinsterten Zuschauerraum zu setzen, in dem obendrein der Eintritt nach Aktbeginn verwehrt wurde und damit zum Respekt vor dem schaffenden und dem darbietenden Künstler zu erziehen; die Claque abzuschaffen, anvertraute Werke des Spielplans mit den Sängern und dem Orchester so zu studieren, als gälte es eine Neuaufführung und als wäre den Aufführenden nicht jede Note bekannt; "Lieblinge" schonungslos zu behandeln, wenn ihre Eitelkeit größer war als ihr Pflichtbewußtsein, von Protektion nichts wissen zu wollen und nur eines zu kennen: Arbeit, Arbeit und wieder Arbeit - kurzum, aus dem Theater einen Kunsttempel zu machen und mit herrlicher Unduldsamkeit und Rücksichtslosigkeit alles wegzufegen, was als gedankenloses Herkommen, egoistische Verwöhntheit und genügsame Selbstzufriedenheit die fanatisch gehütete Makellosigkeit des Kunstwerks und seine orthodox getreue, keine Atempause geringschätzende Wiedergabe bedrohen konnte. Wie war all dies möglich, ohne daß eine Revolte ausbrach oder doch, daß sie nicht sofort, sondern erst geraume Zeit nachher ausbrach?

Mag sein, daß das maßlose Staunen, die Betroffenheit über all diese ganz unwahrscheinlichen und ganz prachtvollen Handstreiche eines ungeheuren Künstlertemperaments alle, auch die sonst allzeit Obstruktionsbereiten, lähmte; mag sein, daß sie hinter all diesen bisher unerhörten, keinerlei Paktieren, keinerlei Widerspruch duldenden Diktaten eines Musiker- willens der alle Konvenienzen über den Haufen warf, die Sicherheit eines in mächtigem Schutz Stehenden argwöhnten, der solche Mißachtung alles Persönlichkeitskultus und aller Beziehungen nur wagen konnte, weil er seiner unantastbaren "Stellung" gewiß war, so daß diese geübten Theaterpolitiker fürchten mußten, es sich bei den Einflußreichen zu verderben, die dem Gewalttätigen doch offenbar den Rücken deckten; mag sein, daß die beispiellose Faszination seiner Persönlichkeit so groß war, daß er zunächst auch die Widerstrebenden bannte und bändigte - denn dieser "Unmensch" bezauberte alle, ließ keinen los, überwältigte auch die Mittelmäßigkeit und schon gar die künstlerisch echten. Sein unsinniges Tempo ließ keinem zur Besinnung Zeit, durch ein paar Jahre gab es ein ununterbrochenes Umlernen, Neusehenlernen, Neuhörenlernen, Neufühlenlernen und erfahren, was es hieß, wenn höchste Liebe und Ehrfurcht sich mit genialem schöpferischen Wesen vereinigte - und hier waren sie, endlich, einmal vereint. Aber trotz allem: Gustav Mahler hätte nichts von alledem vollbringen können, wenn er geahnt hätte, daß das, was er tat, wirklich so unerhört, so tollkühn, so gegen jede Abmachung der Grundgesetzgeber des Theaterbetriebs war. Für ihn verstand sich das alles von selbst. Er hätte es gar nicht begriffen, wie man es anders anpacken könnte. In ihm war die tiefe Unbekümmertheit, die Unschuld und die unbefangene Weltfremdheit, Theaterweltfremdheit eines von seiner Kunst besessenen. Er war einer von den Unbedingten. "Alles oder nichts", das galt auch für ihn. Amt und Würde waren ihm an sich gleichgültig, waren ihm nur ein Mittel, seinen inneren Visionen Ausdruck zu geben und eben diese Gleichgültigkeit, mit der er jederzeit lieber auf jeden äußeren Vorteil verzichtete, als nur um Haaresbreite von dem als richtig Erkannten abzuweichen, hat ihn unüberwindlich gemacht. Es war der Versuch eines Tollen: in der Welt der Scheinkunst, äußerster Unsachlichkeit, der Selbstsucht, der Eitelkeit und der Lüge und Gesinnungslosigkeit, mit einer Kraft, die unbesiegbar schien, echte Kunst zu leisten, auf Sachlichkeit, Selbstlosigkeit, Hingabe und Wahrheit zu dringen und die Leichtfertigen eine Gesinnung zu lehren, die nach dem Untergang Athens nur mehr in Auserwählten lebendig war und für unsere Zeit erst von Richard Wagner neu erweckt worden ist. Und das tollste: daß dieser Versuch gelang, daß wir Feste der Kunst erleben durften, daß ein Halluzinierter seinen Willen sogar der Halbbegabung aufzwang, alle in Ekstasen peitschte, sie in Rausch und Fieber jagte und zu sich emporriß, den außersich- und übersichgebrachten Leistungen abnötigte, die sie sich selber niemals zugetraut hätten und das unvergeßliche Schauspiel .einer Kunsterfüllung höchster Art bot. Hätte er geahnt, was er da eigentlich tat, hätte er gewußt, welche Schwierigkeiten er überwand, an denen jeder andere gescheitert wäre und die er gar nicht sah - es hätte ihn unsicher gemacht und gelähmt. Und als er es zu ahnen begann, als er die Feindseligkeiten derer spürte, die durch ihn weitergekommen waren, hat es ihn unsicher gemacht und gelähmt und so großartig sein Trotz war, der ihn immer wieder produktiv machte, seine Liebe war in ihrer Unberührtheit stärker gewesen. Er war wie der Nachtwandler, der an Abgründen entlang gehen kann, aber den man nicht anrufen darf. Daß ihn dann der Haß, der Neid, die Torheit allzubald angerufen haben, hat ihn vorzeitig zu Enttäuschung und Müdigkeit gebracht.

Mahlers große Tat - als Operndirektor, denn vom Tondichter ist hier nicht zu sprechen - ist einfach wie alles Geniale, so einfach, daß es jedem von selbst verständlich scheint und so genial, daß eben erst ein großer Künstler kommen mußte, um es zur Wahrheit zu machen. Mahler hat, wie kaum ein anderer den Gedanken Richard Wagners erfaßt und zu Ende gedacht- und hat diesen Gedanken des "Gesamtkunstwerks" (um das albernste, aber geläufigste Wort für eine hohe Sache zu gebrauchen) nicht nur auf Wagners Schöpfungen, sondern auch auf all die andern Meisterwerke der Tondramatik angewendet. Wobei sich gezeigt hat, daß sich diese Einheit von Wort, Ton, Gebärde und Bild von selbst, zwanglos und ohne vergewaltigende Umdeutung bei jedem wirklich "dramatisch musizierten" Werk ergibt, auch dort, wo sein Schöpfer gar nicht bewußt verfahren ist. Man kann sagen: Mahler hat nichts andres getan, als die Werke der Meister einfach "richtig" aufgeführt. Aber "richtig" will nicht nur heißen: bis in jedes punktierte Achtel hinein und bis zur unscheinbarsten Silbe korrekt und deutlich. Zu dieser elementaren Voraussetzung kommt dann erst die lebendig einheitliche Aufeinanderstimmung von Darstellung und Gesang, von Gebärde und Haltung, der Stimmung und der Symbolik der Farbe und des Szenisch-malerischen, den besonderen stilistischen Forderungen jedes einzelnen Dramas gemäß und abseits von aller Opernkonvention, einzig auf unmittelbaren, menschlich-starken, künstlerisch reinen und großen Ausdruck gestellt. Aber was in der Formulierung so simpel klingt, hat Mahler, dem diese entscheidende Forderung mit solcher Kraft und Klarheit aufgegangen ist, erst ganz allmählich bis in die letzte Konsequenz erkannt und durchgeführt. Das wichtigste hat er freilich gleich vollbracht: das musikalische mit einer Intensität, einer Durchsichtigkeit und einer Energie und inneren Wahrheit ohnegleichen zu gestalten. Von jener berühmten Lohengrinvorstellung vom 11.Mai 1897 an, mit der er begann und in der das "abgespielte" Werk wie eine leidenschaftlich zarte Offenbarung wirkte, so neu in aller Vertrautheit, so überirdisch glühend und von aller Routine befreit, wie ein persönliches Erleben all derer, die oben auf der Bühne standen, all derer, die unten atemlos lauschten und des Wunders der Dichtung, aber auch des Wunders eines Menschen teilhaftig wurden, der sich mit schrankenloser Selbstvergessenheit verschwendete, dessen Seele zu der des Lohengrinschöpfers transfiguriert schien und der sich mit jeder Faser seines Ich inbrünstig preisgab - von jenem Abend an bis zu dem wunderbaren, an dem Glucks aulidische lphigenie in antiker Größe und Klarheit zu höchstem Stil erstand, ist ein teures Werk nach dem andern auf diese grenzenlos hingebende nachschöpferische Art erstanden. Lortzing, der plötzlich wie ein köstlicher Alter Meister wirkte, Weber, dessen Euryanthe zu neuem Sinn und neuer Pracht erweckt wurde und dessen Freischütz ganz aus der mythischen Phantasie der einfachen Volksseele erstand, die die Naturkräfte symbolisiert, Meyerbeer, dessen Hugenotten entopert und zur Tragödie religiösen Hasses gesteigert wurde, Verdi in all der gewaltigen, der sinnlichen, brennheiß emporspritzenden Melodik der Frühwerke und der köstlich schalkhaften wie aus Silberfäden gesponnenen des Falstaff; und vor allem und immer wieder Mozart, Beethoven und Wagner - Wagner, Mozart und Beethoven. Jedesmal neu gesteigert, jedesmal auch szenisch anders gesehen. Zuerst half Heinrich Leflers, des jüngst Entrissenen, entzückendes und phantasievolles Talent zur Erfüllung von Bühnenträumen der lieblichsten und zartfarbigsten Art; aber noch war der Zusammenhang zwischen Bild und Musik zu lose, der Farbenakkord fürs Auge noch nicht von der gleichen Symbolsprache wie der tönende fürs Ohr. Daß eine Dekoration nicht nur eine malerisch schöne Ergänzung des übrigen, nicht nur ein angemessener Hintergrund für die Aktion, sondern ein Bestandteil der dramatischen Wirkung, daß sie die Dominante einer Stimmung sein, Spannungen auslösen, gleichsam die Essenz der die Szene beherrschenden seelischen Atmosphäre bedeuten könne, hat man erst in den wunderbaren Stunden gelernt, in denen der ."Tristan" in Mahlers fiebernd-lechzender, übermenschlich schmerzvoller, vermehrender, furchtbar aufwühlender Interpretation, in dem tragisch-großartigen Liebespaar Mildenburg-Schmedes und in Alfred Rollers Szenenbild zum erstenmal in seiner überwältigenden Menschlichkeit, in seinem Lachen und Weinen, seinen Wonnen und Wunden ganz erschlossen, ganz dem "Theater" entrückt worden ist. Das Liebesreich der Nacht war aufgetan, der "Tag" versunken, alle Hüllen des Wahns abgestreift; zwei Menschen schritten aus Sinnentrug und Verstrickungen der Eitelkeit in das Land ihrer Ursehnsucht und die Musik schien ihre eigenste Sprache - und dazu empfand das Auge in dem dumpf zornigen Orange des ersten Akts und den gleichsam schielenden grünen Luken des Schiffsraums lsoldens schamvollen Grimm und das drohende Schicksal, das auf tückischer Lauer liegt, empfand Frau Minnes Reich in diesem schwül verführerischen Bild einer sternprangenden, blütenduftschweren Sommernacht, empfand den feindlichen Tag in dem kalten fahlgrauen Morgenhimmel, den ein rötlicher Streif gleich dem Widerschein von Tristans verrinnenden Blut randete; und die gemalte "traurige Weise" des dritten Aktes, Werden und Vergehen im Bilde, sagte das gleiche aus, was die erschütternden Töne verkündigten und ergänzte es zum Gleichnis. Hier war der endgültige Sieg eines neuen Opernstils erkämpft worden und mußte jetzt nur mehr auf die Werke anderer Meister übertragen werden. Bis dahin hatte man Vollkommenheiten der Musik erlebt, Aufführungen von einer mühelosen Vollendung, einer Lebendigkeit, Transparenz und Präzision, wie sie in gleich liebreichem Hegen jeder Schwebung und gleicher Festigkeit der stilvoll gezoge- nen Kontur nicht eben oft zur Tatsache geworden waren; aber hier konnte man immerhin noch streifen, konnte gegen Mahlers luzide, unentrinnbar faszinierende, krystallhell durchleuchtende Art, die die Musik gleich hochgespannten Frequenzströmen ins Haus zu senden schien, die kräftige, männlich-gesunde und breit schwingende Hand Richters oder die zierlich diskrete, miniaturistisch glitzernde Art Wilhelm Jahns ausspielen und seinen Geschmack da oder dort wunschloser befriedigt finden. Vom Tristan an war, wenigstens unter solchen, die wußten, um was es hier geht, ein Streit nicht mehr möglich. Es war der Sieg der Geistigkeit über die bloße Sinnlichkeit, des Wesentlichen eines Werks über die zufälligen Äußerlichkeiten des Theaters. Hier wurden alle lnnerlichkeiten offenbar und wuchsen zur Einheit zusammen. Jedem Werk wurde sein inneres Gesetz abgehorcht und einzig aus ihm heraus wurde sein besonderer Stil in der organischen Wiedergabe der Musik, der Dichtung, der sinnfälligen Aktion und ihrer malerisch-symbolischen Hintergründe festgestellt, unerbittlich, ohne schmückendes Beiwerk, ohne ablenkende Augenunterhaltung, auf die einfachste und stärkste Linie gebracht und auf das reinste bewahrt. So erlebte man den "Don Giovanni" als ganz ins Unwirkliche stilisiertes tragisches Puppenspiel von den Mächten des Lebens, den "Figaro" als entzückend geistreiche, boshaft heitere, schwebend leichte Komödie der menschlichen Schwächen, der ein drohender, gerade durch seine bloße Andeutung beunruhigender Revolutionshintergrund eine vertiefende Perspektive gab, die "Zauberflöte" als hell phantastisches Märchenbuch für maurerisch Wissende, den "Fidelio" - unvergeßlich in seiner Mischung von sublimer Kammermusik und monumentaler dramatischer Wucht - als Hohes Lied aller Menschlichkeit und heiliger Gattentreue, verfinstert durch den Haßgesang kleinlicher, rachlüsterner Herrschsucht, fraulich-liebenswürdig durchwirkt durch idyllisch enge Bürgerlichkeit und machtvoll aufrauschend und ausklingend zu einer Freiheitshymne verbrüderter Menschenliebe. Erlebte "Rheingold" und "Walküre" als die Wotanstragödie, als riesenhaft elementaren Mythos der Natur und einer Urmenschheit, die von Anbeginn dem Fluche liebloser, goldverstrickter Machtgier, der entweihten Unschuld der Schöpfung verfallen ist, erlebte im Bilde die kosmischen Vorgänge, die die sagenbildende Phantasie des Volks zu göttlichen Wesen, zu jagenden Walküren, zu Zwergen, Drachen und Riesen umgedeutet hat und erlebte in der unerhört intensiven Gestaltung der Musik des Ansteigen vom unbeseelten Naturlaut bis zum heftigsten Laut menschlicher und göttlicher Beseelung und Erschütterung. Erlebte Lortzings "Waffenschmied" als das liebenswerteste, frohe, gemütvolle Vorspiel zu den Meistersingern, die "Widerspenstige" von Hermann Goetz als hinreißend helle, sonnig-übermütige Komödie voll deutschen Geists und italienischer Spielfreude und Turbulenz, Verdis Falstaff als subtilste, prachtvoll vergeistigte Erfüllung Shakespearescher Lustspiellaune in kostbar anmutiger, wählerischer Musik, die aus den feinsten Extrakten filtriert schien -- und endlich jene unvergleichliche "lphigenie in Aulis", in der griechische Vasenmalerei und Marmorplastik zu einer polychromen Gestaltung, vor allem aber zu einer Musik geworden eher von einem Homer als von einem Corneille der Tonkunst geschaffen schien. Und entsann sich, daß ähnliches ja schon vorher empfangen worden sei, mit freudiger Ergriffenheit und Staunen, aber ohne Bewußtwerden des schöpferischen Prinzips, mit dem ein wirklicher Erbe Richard Wagners die Kunst tondramatischer Wiedergabe monumentalisierte und in festlicher Reinheit darbot; entsann sich der -sprühenden Heiterkeit der "Lustigen Weiber", des plötzlich als jugendlich-stolze, prächtig aufrührerisch hinrauschende Tragödie enthüllten "Rienzi", entsann sich vor allem der phantasievoll dämonischen, unheimlich lockenden Aufführung von "Hoffmanns Erzählungen", durch die das seltsam bannende Werk erst der deutschen Bühne erobert wurde und in der Mahler selber zum Kapellmeister Kreisler zu werden und scheinlebendige Automaten, gleitende Kurtisanen, schwindsüchtige Mädchen, teuflische Quacksalber, magische Spiegelbilder und hypnotisierte Poeten zu einem grausigen und verführerischen gespenstigen Reigen zu beschwören schien. Ein Reigen, der beinahe zum Gleichnis wurde; zu einem Gleichnis der fast satanischen Gewalt, mit der Mahler sich auch die bloß mechanischen, die schwächlichen, unlebendigen und unechten unter seinen Helfern zu seinen Geschöpfen schuf, sie mit seinem lodernden Willen erfüllte, ihnen alles allzumenschlich begnügsame austrieb und sie in Abenteuer und Siege jagte, deren sich viele später fast erschreckt und schaudernd erinnerten, wenn sie sich im künstlerischen Alltag wiederfanden und kaum mehr wußten, wie sie damals dorthin gelangen konnten. Es war eine Transfusion des Geistes, wie man sie vielleicht nur noch in Bayreuth erlebt hat. Und viele von denen, die ohne Mahler nicht mehr auf diese Höhe finden konnten, grollten ihm darob, - statt ihm dankbar zu sein, daß sie durch ihn künstlerisch und geistig weitergekommen waren. Worüber allerlei amüsante und auch erbitternde Geschichten zu erzählen wären, wenn nicht Raum und Gelegenheit das Befassen mit internen Dingen des Hauses verwehrten.

All diese Kunstfeste - und als solche hat sie jeder empfunden, der sie miterlebt hat - hätten, genügen können, um den zehn Jahren, in denen Mahler die Wiener Hofoper geleitet hat, die Signatur der größten Zeit zu geben, die diesem Hause bis jetzt beschieden war. Einer Zeit, wie sie nicht vielen Opernbühnen Deutschlands jemals zuteil geworden ist und vielleicht nur noch jenen beiden glanzvollen Epochen zu vergleichen, in denen Carl Maria von Weber und Richard Wagner die Dresdener Oper zu bisher ungeahnten Reformen in der Kunst der Opernvorstellung geführt hatten: Sie hätten genügen können, weil durch sie die ganze Art des Studierens und der Interpretation eine andere, unendlich erhöhte nicht nur für die genannten und für viele zu ähnlicher Vollendung gebrachten Werke geworden war, sondern auch für den "Alltag" der Oper; der Geist des Hauses war ein anderer geworden, das Gefühl, einer großen Sache zu dienen, nicht nur der eigenen kleinen Person, beherrschte alle Helfer am Werk. Und Feste waren nicht nur jene Abende, die nach wundervoller Vorbereitung in unsäglich genauer, vergeistigter, intensiver Weise als besondere Ereignisse über den "normalen" Spielplan hinaus wuchsen; es gab auch immer wieder Feste einer gleichsam improvisierten Art, Vorstellungen, die vielleicht nicht die gleiche Vollendung der szenischen und malerischen Ausführung boten - die, wenn sie jedem Werke des Repertoires hätte zuteil werden sollen, die Arbeit von zweimal zehn weiteren Jahren gefordert hätte - aber die in der Lebendigkeit, der feurigen Präzision und der Schönheit des Musikalischen in Orchester und Gesang unauslöschliche Eindrücke wachriefen. Es war ja damals noch nicht üblich, auf dem Theaterzettel zu vermerken, wem die "musikalische Leitung" des Abends obliege - was übrigens späterhin während mancher unmusikalischen Leitung als ein allzu gewagtes Versprechen empfunden werden mußte - aber wenn nach dem letzten Glockenzeichen die schmächtig-energische, eilige Gestalt Mahlers ungeduldig stampfend ins Orchester schoß, das geistreiche, blasse Antlitz mit dem schwarzen Haarschopf, der steilen Stirn, dem jäh vorstoßenden Kinn und der scharfen Nase noch einmal mit kurzem Ruck dem Auditorium zuwandte, mit einem unwilligen Blick, der hinter den grell funkelnden Brillen hervorblitzte, die Zuspätkommenden zur Ruhe scheuchte und dann mit zwei harten, schnellen Schlägen das Zeichen zum Beginn gab, dann wußte jeder, das jetzt drei Stunden kämen, in denen man dem Weltgeist näher war als sonst und keine Frage an das Schicksal frei hatte, weil von dort unten, aus der Musik alle Antwort kam. Denn Mahler war ein Dirigent, der, ohne ihm und den anderen Unrecht zu tun, mit keinem anderen verglichen werden konnte: einzig Richard Wagner scheint mit der gleichen heftigen Inbrunst und Disziplin zugleich dirigiert zu haben, erpresserisch um den höchsten Ausdruck und die höchste Akkuratesse ringend, alles zur dramatischen Einheit webend, das eins im andern gespiegelt lebte, Gesang im Orchester, Orchester im Bild und in der Stimmung, die Gebärde an den Rhythmus und das Melos, das Wort an die Gebärde gebunden. Wenn Mahler am Pult saß, des Musikgottes voll, dann spürte man erschüttert einen Menschen, der sich in rasender Seligkeit, Verzweiflung, Andacht ganz aufschloß, ganz hergab, der sich verschwendete und völlig an das Werk verlor und sich doch bewahrte, der in diesen Augenblicken sich und den schönsten Sinn seines Seins erfüllte und der dabei den schönsten Sinn der von ihm dirigierten Schöpfung und ihres Tondichters offenbarte - oft, viele haben es bekannt, weit über ihre Träume hinaus. Wie Mahler, in den ersten Jahren in einer Lebhaftigkeit, Deutlichkeit und Beredsamkeit der Gebärde, die etwas überraschend fesselndes, beschwörendes, alarmierendes und fabelhaft charakteristisches hatte, später dann mit gebieterischer Ruhe und imponierender Plastik, die nur in den Momenten der Erregung in sausende Hiebe und zustechende, gleichsam die Musik ins Herz treffende Ausfälle des Taktstockes überging - wie Mahler seine Künstler auf der Bühne und im Orchester aufwiegelte und beschwichtigte, wie er den einen ins Schweigen zurücktrieb, den andern zu besonderem Akzent hervorscheuchte, wie er allen die letzte Ausdruckskraft abrang, wie er in fassungslosem Nichtbegreifen erschrak, wenn einer sich mit einem "beiläufig" begnügte oder eine Betonung nur ungefähr, nicht mit dem Einsatz seiner ganzen Wesensemp- findung brachte, wie er den verborgensten Zug lebendig machte und doch alles zu einheitlicher Größe auftürmte - das war beklemmend schön, war Meisterschaft an sich, war ein Schauspiel von einzigartiger Selbstverschwendung im Dienst des Werkes, das - mochte es welcher Art immer sein - vor denen, die es erlebten, ganz so schlackenlos, unentweiht und lebensvoll zu erstehen schien, wie es seinem Schöpfer zum erstenmal als schönste und beglückendste Vision aufgegangen war. Man darf sagen: Wagner, Mozart Gluck, Beethoven, Weber und Verdi, die Großmächtigen der Oper, hat man in diesen Jahren nirgend in der Weit in ähnlicher Vollkommenheit und Eindringlichkeit hören können wie in Wien.

Man hat oft behauptet, Mahler habe in der Wahl seiner Novitäten nicht viel Glück gehabt, jedenfalls nicht das gleiche wie bei seinen Neuinszenierungen. Es wäre zu erwidern, das man nicht ihn dafür verantwortlich machen könne, was zu jener Epoche komponiert wurde und daß man höchstens dann einen Vorwurf gegen ihn erheben könnte (der aber nie erhoben worden ist!) wenn er ein wichtiges Werk der Zeit übersehen oder gar abgelehnt hätte. Aber es bedarf dessen gar nicht. Man vergleiche Jahns Novitäten - unter denen die schwächsten hier gar nicht angeführt werden - mit denen, die Mahler brachte, überlege, daß er neben "Hoffmanns Erzählungen" und Smetanas edel-heroischem "Dalibor" mit "Onegin", der "Pique Dame" und "Jolanthe" Tschaikowsky zum erstenmale zu Wort kommen ließ, daß er Richard Strauß mit der "Feuersnot", Pfitzner mit der "Rose vom Liebesgarten", Siegfried Wagner mit dem "Bärenhäuter" eingeführt hat, daß er neben Charpentiers "Louise" (die freilich heute als Arbeiteroper in ihrer geistreich kühnen Realistik ganz anders verstanden würde) und neben Thuilles "Lobetanz", dieser reizvoll feinen, mittelalterlich bunten Märchenlegende, Puccini mit der "Boheme" und der "Butterfly" zuerst gebracht (und damit einen der bis heute ungeschwächten großen Erfolge des Hauses), daß er Wolf-Ferraris allerliebste, hurtig geplauderte Komödie von den "Neugierigen Frauen", Bizets exotisch duftende "Djamileh" aufgeführt hat, daß er außer den schon genannten von den jüngern deutschen Tondichtern noch d'Albert, der anders begann, als er heute ist, mit seiner "Abreise", die ein Chodowiecki in Tönen ist, und mit seinem munteren und stilistisch lustigen "Flauto Solo", Leo Blech mit "Das war ich", Reznicek mit seiner vornehm heiteren "Donna Diana" die Opernbühne öffnete und das gleiche den österreichischen Opernkomponisten tat, Hugo Wolf mit dem "Corregidor", Zemlinsky mit seinem anmutig herben Märchen "Es war einmal", Josef Reiter mit seinem finster kraftvollen, harten "Bundschuh", Josef Forster mit dem launigen Hans Sachs-Spiel "Der dot mon", Julius Bittner mit seinem talentstrotzenden Erstling "Die rote Gred" (die allerdings erst knapp nach dem Scheiden Mahlers, der das Werk angenommen hatte, zur Aufführung kam). Lauter Namen die heute noch klingen - wer denkt noch an Breton, Smareglia, Messager! Und lauter Werke, die heute noch ihren Wert behaupten; Werke, unter denen kaum eines ist, das die Mühe einer Wiederbelebung nicht lohnen würde. Daß Mahler das wichtigste Tondrama der Epoche, daß er aus vorsintflutlichen, höfischen Zensurgründen die "Salome" nicht aufführen durfte hat ihn zum Entschluß gebracht, vom Operntheater Abschied zu nehmen.

Es war nicht der einzige Grund. Der genius loci, der Geist des Hauses, der schon seine Erbauer aus dem Leben getrieben hatte, ging wieder um. Die kleinen "Affären" und die größeren Intrigen, von beleidigten Eitelkeiten und subalterner Gehässigkeit ausgehend, entwickelten sich endlich zu einer jener niedlichen Wiener Hetzen, denen zumeist nur solche gewachsen sind, deren verwandte Gesinnung Abwehrmittel gleicher Art bereithält, - und Mahler gehörte nicht zu ihnen. Der größte Teil der Kritik tat munter mit, in einem Ton, dessen beispiellose Impertinenz und in einer Besserwisserei, deren sterile Respektlosigkeit und Perfidie heute noch jedem in Scham und Zorn das Blut in die Wangen treiben. Vielleicht wäre Mahler trotz alledem vor diesem Ansturme dieser Inferiorität nicht zurückgewichen. Er hätte ja gerne noch den großen Festspielzyklus "Deutsche Oper" - von Gluck bis Strauß, in Meisteraufführungen! - zu Ende gebracht. Aber er selber war ein innerlich Enttäuschter: er erkannte die Danaidenarbeit, die darin lag, daß er immer und immer wieder neu aufbauen, jede Vorstellung wiederum durchbilden und beleben mußte und keine einzige auf der Höhe, die er ihr einmal gegeben hatte, ohne immerwährendes Neuaufrichten bewahren konnte. Was half es, wenn er jenen Zyklus, der ihm einmal als Ziel seines Wirkens im Opernhause vorschwebte auch vollendete - vererben konnte er ihn nicht. Er mußte einsehen, daß er dem, was er hier geschaffen hatte, keine Dauer geben konnte, daß es jugendliche Vermessenheit von ihm war, zu denken, aus einem täglich spielenden Theater ein Festspielhaus zu machen: gerade dieser Zwang, allabendlich eine Oper aufzuführen, war es ja, der das Niveau bedrohte; während er an Neuem schuf, bröckelte das Alte ab und nicht nur der feinste Duft, auch die notwendigste Korrektheit mußte im "Betrieb" verloren gehen. Zu dieser Enttäuschung kam, daß seine Spannkraft gelitten, seine sprungbereite Energie einen lähmenden Stoß empfangen hatte: der Hypochonder, der er immer war, wurde durch die rohe, dummwichtig ausgesprochene Diagnose eines Landarztes, der einen schweren Herzfehler an ihm konstatierte, derart aufgeschreckt, das er sich innerlich aufgab, fortan nur mehr sub spezies mortis lebte und mit müder Resignation, die nur hie und da seinem lodernden Ungestüm wich, wenn auch mit eiserner, nichtablassender Pflichtreue, an seine Arbeit ging. Die maßlosen Erregungen, die das Treiben gegen ihn verschuldet hatte, wirkten unheilvoll auf seinen Zustand. (Sein erschütterndes Lied von der Erde und die neunte Sinfonie drücken aus, was er damals - denn später fand er sich wieder zu Lebensmut und Hoffnung - gelitten haben mußte.) Eine lächerliche Sängerangelegenheit, die ihn aber arg verletzte, ein fast komisches Urlaubs-qui-pro-quo- und eine Treulosigkeit des Publikums, das eine Galerieinsulte nicht abwehrte, taten das ihre, um sein Scheiden unwiderruflich zu machen. Im Dezember 1907 ging er. Nach Amerika, weil Europa für einen Gustav Mahler keine Stellung übrig hatte. Dreieinhalb Jahre später war er tot.“