VON DER LIEBE TOD
Aktuelle Spielpläne
Opernführer
Forum
Home

Chronik

Premiere
Staatsoper
29.9.2022


Musikalische Leitung: Lorenzo Viotti

Inszenierung: Calixto Bieito
Bühne: Rebecca Ringst
Kostüme: Ingo Krügler
Licht: Michael Bauer

Sopran - Vera-Lotte Boecker
Alt - Tanja Ariane Baumgartner
Tenor - Daniel Jenz
Bariton - Florian Boesch

Knabenstimme (Sopran) - Johannes Pietsch
Knabenstimme (Alt) - Jonathan Mertl


Misslungenes Experiment
Dominik Troger

Die Wiener Staatsoper würde sich gerne mit einer Oper von Gustav Mahler schmücken, dem „Übervater“ aller Staatsoperndirektoren, aber Mahler hat der Nachwelt keine originäre Oper hinterlassen. Deshalb ist man auf den „sublimen“ Gedanken verfallen, eine Märchen-Kantate und Orchesterlieder des Komponisten als Grundlage für einen eineinhalbstündigen Musiktheaterabend zu nehmen.

„Das klagende Lied“ und die „Kindertotenlieder“ wurden unter dem Titel „Von der Liebe Tod“ szenisch zwangsverheiratet. Als Heiratsvermittler fungierte Staatsoperndirektor Bogdan Roščić, als Standesbeamter Regisseur Calixto Bieito, als Trauzeuge Sergio Morabito, Chefdramaturg der Wiener Staatsoper. Den Hochzeitsgästen respektive dem Publikum verspricht Morabito im Programmheft zur Aufführung (S. 17) eine „bewegende Neuentdeckung“. Man sollte das nicht zu wörtlich nehmen.

Der pausenlose Abend beginnt mit dem „Klagenden Lied“ an das sich die „Kindertotenlieder“ anschließen. Vom „Klagenden Lied“ wird die Erstfassung gespielt. (Dirigent Lorenzo Viotti erläutert in einem Beitrag im Programmheft die Details. Es wurden ein paar kleine Veränderungen vorgenommen.) Calixto Bieito erzählt die Geschichte stark abstrahierend, ohne romantisch-märchenhafte „Umschmückung“. Der Bühnenraum ist weiß ausgekleidet, blendet am Beginn das Publikum. Der Chor ist weiß gekleidet genauso wie Sopran, Alt, Tenor, Bariton. Der Chor tritt mit hochgewachsenen, in Plastik verpackten Topfpflanzen auf. Der Tenor schüttet Erde auf den Boden usf.

Zumindest bleibt das Handlungsgerüst erkennbar: In den beiden männlichen Solisten kann seitens des Publikums das Brüderpaar vermutet werden, das jene Blume sucht, die von einer Königin als „Liebesbeweis“ von ihrem künftigen Bräutigam verlangt wird. Das Märchen, das Gustav Mahler im „Klagenden Lied“ vertont hat, berichtet davon, dass der jüngere Bruder die Blume findet und vom älteren Bruder ermordet wird, der die begehrte Blume an sich nimmt. Ein Spielmann findet den Toten, schnitzt eine Flöte aus seinem Gebein. Die Flöte klagt mit gespenstischem Lied den Mörder an. Der ältere Bruder wird während der Hochzeit mit der Königin durch den Gesang der „Zauberflöte“ entlarvt. Bieito inszeniert den Mord, er lässt die Sängerin der Altstimme an einem Plastikunterarm herumschnipseln, der Chor betreibt Gymnastik mit vom Schnürboden baumelnden, unansehnlichen dicken Kabelsträngen ein Maibaumtanz zur Hochzeit? Aber die Sache mit den Kabeln ist rätselhaft und lässt vermuten, dass Bieito an vieles andere, nur nicht an ein Märchen aus dem 19. Jahrhundert gedacht haben könnte.

Gibt es dafür Indizien? Im Programmheft sind ein paar Absätze aus dem Buch „New Dark Age: Technology and the End of the Future“ von James Bridle abgedruckt. Sie berichten vom Hochfrequenzhandel an den Börsen, von Cyberattacken, von Desinformation, von einer Grauzone, in der wir leben.  Aber abgesehen von diesem Hinweis bleibt das Programmheft auf seinen knapp hundert Seiten ziemlich schweigsam, was mögliche zeitgeistige Querbezüge betrifft. In der Publikumszeitschrift der Staatsoper Opernring Zwei vom September erwähnt Morabito in der Vorberichterstattung zur Premiere die Dystopie The Road von Corman McCarthy, die Bieito inspiriert haben soll. Aber Papier ist bekanntlich geduldig und Bieito selbst ließ sich augenscheinlich zu keiner Wortspende verleiten. 

Den „Kindertotenliedern“ kommt im Rahmen dieses „Konzepts“ nur mehr die Rolle einer „Coda“ zu. Sie soll die im „Klagenden Lied“ geweckten Emotionen über den Verlust von – ja wovon eigentlich? – verstärken. Als poetischer Ausdruck starken Schmerzes, höchst subjektiv gefärbt, sind die „Kindertotenlieder“ ohnehin mehr Mosaiksteinchen einer großen Erschütterung, als dass man sie in einen linearen Handlungsablauf sortieren könnte. Bieito hat sie vor allem mit bedeutungsvollem Steh- und Schreittheater verinszeniert, während Bühnenpersonal die Wände mit dickstrichigen Kinderzeichungen bemalt. Am Schluss, wenn Bariton und Alt langsam von der Bühne abgehen und die Szene von intensivem Magenta nach Blau „verdämmert“, versucht er noch, dem Publikum ein paar Tränen der Rührung abzupressen. Der szenische Gesamteindruck bleibt unausgegoren und überraschend belanglos. Vergleichbare „Veroperungsexperimente“, die das Theater an der Wien seit den 2000er-Jahren angestellt hat, waren handwerklich überzeugender gearbeitet. Aber ist ein Repertoirehaus wie die Staatsoper nicht ohnehin der falsche Platz für solche „Experimente“?

Lorenzo Viotti am Pult hätte ruhig mehr im Detail forschen können, in spannungssteigernden Nuancen – etwa gleich am Beginn, wenn die Streicher das langsame und träumerische Bläserraunen „klagend“ in Frage stellen. Aber dergleichen hätte auch eines differenzierteren Klangbildes bedurft und einer erzählerischen Stringenz, die sich nicht nur auf die großen Orchesterausbrüche verlässt, sondern den Vortrag besser zu gliedern weiß. Damit hätte er zudem den Sängern geholfen, die hier keine Figuren verkörpern, sondern eine erzählende (!) Funktion haben und deren Textverständlichkeit unbedingten Vorrang haben müsste. Dem stand aber die szenische Aufführungssituation und ein oft zu lautes Orchester entgegen. Viotti vermied es, Mahlers Verklärungssehnsucht auszuspielen, ließ sie erst ganz am Schluss zu, im langsamen Ausklingen des Orchesters, in der tröstenden Verzauberung des Schmerzes „sie ruhn wie in der Mutter Haus“.

Seitens der Solisten haben Florian Bösch und Tanja Maria Baumgartner den besseren Eindruck hinterlassen. Wobei Bösch mit seinem musiktheatergeschärften Sinn von dieser Inszenierung viel zu wenig herausgefordert wurde. Bösch sucht auf der Bühne den existentiellen Zugang, seine Stimme ist rauerer Natur, er hält sich mehr an die schroffen Fakten und betäubt nicht den Schmerz in der bitteren Süße von Mahlers Klangmalereien. Es kann schon sein, dass die „Kindertotenlieder“ meist zu „schön“ gesungen werden, aber es gibt schon prachtvolle Aufnahmen davon. Mit solchen sollte man Bösch nicht vergleichen.

Tanja Maria Baumgartner kam die musikalische „Schönfärberei“ mehr entgegen. Vera-Lotte Boeckers lyrischer Sopran litt ein wenig unter der Vorherrschaft des Orchesters und hätte sich, wie der Tenor von Daniel Jenz, in etwas satterem Strömen Mahlers Musik hingeben können. Für die Regie gab es am Schluss Bravorufe und Buhrufe. Der Applaus dauerte keine zehn Minuten lang. Auf der Galerie sah man ausreichend freie Sitzplätze und der Stehplatz war schlecht besucht. Es sollte kein Problem sein, für die Folgevorstellungen Karten zu bekommen.