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"In der Kürze liegt die Würze - oder die Verkürzung..."
Eine Buchbesprechung
(Dominik Troger)

Robert Schlesinger: Die Emotionale Revolution. Die Oper als Schlüssel zu den 150 Jahren des 19. Jahrhunderts. Czernin Verlag. Wien 2001. ISBN 3-7076-0131-5. Preis: 23 Euro. ca. 300 Seiten

"Nicht Bürgertum und Kapitalismus haben das 19. Jahrhundert bestimmt, sondern das Gefühlsleben! Erst im späten 18. Jahrhundert sind Gefühle in der uns geläufigen Intensität und Qualität entstanden. Diese "Emotionale Revolution" bildet laut Schlesinger die Voraussetzung für die Moderne. Und die Oper des "langen" 19. Jahrhunderts sei die wichtigste künstlerische Ausdrucksform des neuen Gefühlshaushaltes, der Gegensatz zwischen modernen und vormodernen Gefühlen ihr zentrales Thema.
Dieses Buch hat keinen geringeren Anspruch als: die Geschichte der Aufklärung des 19. Und des 20. Jahrhunderts neu zu schreiben - und das gewissermaßen en passant, denn eigentlich geht es um die gesellschaftliche Funktion der Oper."
Das vermeldet der Buchrücken u.a. als Appetitanreger.

Geht es nach Schlesinger, dann hat er das E=mc² der neuzeitlichen Geschichtsschreibung gefunden. Und wahrscheinlich meint er das auch so, weil er schon im Vorwort "Hinweise für meine Rezensenten" auf seinen gymnasialen Physiklehrer referenziert, der geniale Schülerideen mit der Klassifizierung "Zweistein" dem Hohn und Spott der Mitschüler preisgab. Dermaßen geprägt und abgehärtet ist nun Schlesinger daran gegangen, die Geschichtsschreibung der letzten hundert Jahre einer gründlichen Revision zu unterziehen. Der Begriff des Bürgertums wird von ihm als Fata Morgana erkannt, samt der Oberbau-Untermühle-Tretmühle des Marximus. Was zählt ist das individuelle Glücks- und Liebesstreben des Einzelnen, das im 18. Jahrhundert zuerst in wenigen, dann in immer mehr Menschen aufblühte und im 19. Jahrhundert zur bestimmenden gesellschaftlichen Kraft in (West-) Europa und Nordamerika avancierte. Er nennt das die "Emotionale Revolution" - und die Oper von Mozart bis Puccini habe für ein emotional aufgeklärtes Publikum genau diesen Bereich thematisiert. Die Typen der Barockoper wandelten sich zu Individuen, die die Problemstellungen der emotionalen Revolution nachvollziehen. Nach Puccini aber haben die Opernkomponisten zunehmend nicht mehr diese "emotional-revolutionäre" Basis berücksichtigt, die vom Publikum nach wie vor gefordert und verstanden wird. Deshalb werden munter die "alten Opern" erfolgreich weitergespielt.

Leider durchzieht den ganzen Band eine feuilletonistische Nonchalance, die es schwer macht, das Revolutionäre an Schlesingers Theorien wirklich zu würdigen. Schlesinger verlässt sich Seite um Seite auf ein Patchwork von Sekundärangaben, und knüpft einen mehr auf dem Zufälligkeitsprinzip denn auf einem systematischen Aufbau beruhenden Fleckerlteppich, der sich aus vielen quergelesenen Büchern speist. Dabei geht es nicht ohne Unklarheiten und Unschärfen ab, etwa wenn er den Begriff des Musikdramas in einem Nebensatz als Propagadamasche Wagner's abtut oder wenn er versucht, die Unwichtigkeit von Libretti nachzuweisen. (Vielleicht hätte es Schlesinger geholfen, hier ein bisschen in Wagner's theoretischen Schriften zu blättern..?) Und warum er sich beim Nachweis, dass Musik "Gefühle darstellt" im wesentlichen auf eine Studie aus dem Jahre 1956 (!) bezieht, ist ebenfalls stark erklärungsbedürftig.

Wirklich gelungen ist eine umfassende Darstellung der Opernhandlungen von Mozarts "Entführung" bis Puccinis "Turandot". Hier schafft es Schlesinger, dem Leser das Auge für die Gemeinsamkeiten dieser Werke zu öffnen, deren Uraufführungen nahezu 150 Jahre auseinanderliegen. Dabei gelingt die Abgrenzung zur Barockoper besser als ins 20. Jahrhundert hinein. (Da müsste man über die eine oder andere Zuordnung noch eingehender Nachdenken.) Ein weiterer Punkt, der noch der näheren Erläuterung bedarf, ist die Rolle Shakespeares. Das 19. Jahrhundert ist voller Opern, die auf Shakespeare-Stoffen beruhen - und Shakespeare war eben lange vor der "emotionalen Revolution" auf der Welt. Schlesinger nennt Shakespeare deshalb auch einen "Propheten der emotionalen Revolution" und bleibt weitere Details dem Leser schuldig.

In Summe kommt man zum Ergebnis, das Schlesinger nur einen Trend verbalisiert, den die Sozialgeschichte schon seit Jahrzehnten als eine Art von "Individualisierung" breiterer Bevölkerungsschichten ab dem 18. Jahrhundert festgemacht hat. Und Schlesinger hat das natürlich alles gelesen, begonnen bei Philippe Ariès "Geschichte der Kindheit". Das Verdienst Schlesingers ist es, hier die Oper ins Spiel zu bringen und sie sozusagen als zusätzliches Beweismittel für diesen "Paradigmenwechsel" heranzuziehen, wobei er sich aber gerade an diesem Punkt um das Aufbereiten von Primärquellen nicht hätte herumdrücken sollen. Was wäre faszinierender gewesen, als beispielsweise seine (abgeschriebenen ) Ausführungen zur Heterogenität des Opernpublikums im 19. Jahrhunderts mit einer umfassenden Studie zur Besucherstruktur der Wiener Hofoper untermauert zu sehen.

Dort wo Schlesinger meiner Meinung nach falsch liegt, das ist seine Einschätzung des Regisseurwesens im 20. Jahrhundert. Er meint, den Regisseuren komme hier die Rolle zu, wie im 19. Jahrhundert den Librettisten und den Komponisten "jedenfalls für den Großteil des Publikums." Ich möchte dagegenstellen, dass ein Großteil des Publikums Regisseure als Ärgernis empfindet. Warum? Weil sie die erwarteten und geforderten emotionalen Qualitäten vernachlässigen und aus Gefühlsdramen intellektuelle Versatzstücke machen. Ein Vorwurf und eine Ablehnung, die moderne Regiearbeit genauso mit einem Bann belegt, wie - so ja auch laut Schlesinger - zeitgenössische Opernwerke. Denn - und das scheint mir die Quintessenz aus Schlesingers Buch - solange sich in einer Oper Herz auf Schmerz reimt, kann nicht viel schief gehen. Alles andere ist ein Minderheitenprogramm. Dank Schlesinger hat man jetzt auch ein paar Argumente zur Hand, warum das so sein könnte.

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