LASS UNS DIE WELT VERGESSEN - VOLKSOPER 1938
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Volksoper
21.12.2023

Musikalische Leitung: Keren Kagarlitsky

Regie, Text & Libretto: Theu Boermans
Bühnenbild: Bernhard Hammer
Kostüme: Jorine van Beek
Choreographie: Florian Hurler
Licht: Alex Brok
Video: Arjen Klerkx
Sounddesign: Martin Lukesch
Historische Beratung: Marie-Theres Arnbom

Alexander Kowalewski, Intendant - Marco Di Sapia
Ossip Rosental, Souffleur - Andreas Patton
Hugo Wiener, Autor - Florian Carove
Fritz Löhner-Beda, Librettist - Carsten Süss
Kurt Herbert Adler, Dirigent - Lukas Watzl
Kurt Hesky, Regisseur - Jakob Semotan
Leo Asch, Bühne und Kostüm - Szymon Komasa
Bühnenmeister - Gerhard Ernst
Hulda Gerin (Miss Violet) - Johanna Arrouas
Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg) - Ben Connor
Fritz Imhoff (Püringer) - Wolfgang Gratschmaier
Trudl Möllnitz (Franzi) - Theresa Dax
Olga Zelenka (Resi) - Sofia Vinnik
Kathy Treumann (Anni) - Julia Koci
Walter Schödel (Werkmeister) - Nicolaus Hagg
Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl) - Ulrike Steinsky
Emil Kraus (Otto Binder) - Sebastian Reinthaller
Franz Hammer (Pepi Marisch, Briefträger) - Johannes Deckenbach
Kurt Breuel (Graf Ulrich von Kürenberg) - Kurt Schreibmayer
Johanna Kreuzberger (Amalasvintha von Kürenberg) / Mutter Wiener - Regula Rosin
Horst Jodl - Robert Bartneck
Fritz Köchl - Axel Herrig
Hans Frauendienst (Wirt Glöckerl) - Thomas Sigwald

Ensemble: Josefine Tyler, Jennifer Pöll, Marina Petkov, Anetta Szabo, Rebecca Soumagné , Victoria Demuth , Kilian Berger, James Park, Philip Ranson, Michael Konicek, Benjamin Oeser, Oliver Floris


Gemeinsames Erinnern
(Dominik Troger)


Die neue Volksopern-Produktion „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ erinnert mit Operettenschwung und Weltuntergangsstimmung an den März 1938. Sie gedenkt all jener Mitarbeiter und Künstler, die damals Opfer des Nationalsozialismus geworden sind: von der Direktionsetage bis zum Souffleur.

Mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hat man es hierzulande oft nicht sehr genau genommen. Die großen Kulturinstitutionen segelten jahrzehntelang unter angeblich historisch unbelasteter „Flagge“. Erst im Laufe der 1980er-Jahre begann man sich intensiver mit der Kulturpolitik des Dritten Reichs und ihren fatalen Auswirkungen auf die heimische Theaterlandschaft zu befassen. Ein unermüdlicher Mahner ist in dieser Sache beispielsweise der frühere Staatsoperndirektor Ioan Holender gewesen, der während seiner langen Direktionszeit auch auf den laschen Umgang mit der Entnazifizierung im Kulturbereich nach 1945 hingewiesen hat.

Obwohl inzwischen vieles dokumentiert und wissenschaftlich aufgearbeitet wurde, mit dem Schwinden der direkt betroffenen Generationen geht es immer mehr darum, die Erinnerung an jene Epoche wachzuhalten und dieses Erinnern nicht nur Historikern zu überlassen, deren im Detail unerlässliche Forschungsergebnisse in der öffentlichen Breitenwirkung oft überschaubar bleiben.

Anlässlich ihres 125-Jahr-Jubiläums hat sich nun die Volksoper dieses Themas angenommen und dabei den „haptischen“ Weg des Theaters beschritten, einen künstlerischen Weg, der mehr auf das Gesamtbild zielt, als auf einen nüchternen Rechenschaftsbericht mit Dutzenden an Fußnoten. Schließlich hat der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland auch für die Volksoper einen gravierenden Einschnitt bedeutet. Das Ensemble und die Direktion wurden arisiert, die Volksoper als „Opernhaus der Stadt Wien“ in die nationalsozialistische Propaganda eingebunden.

Der Regisseur und Autor Theu Boermans hat gemeinsam mit Keren Kagarlitsky, der musikalischen Leiterin der Produktion, eine dokumentarische Zeitreise zusammengestellt, in der das heutige Ensemble der Volksoper die Ensemblemitglieder von damals spielt. „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ besteht aus zeitgenössischem Video- und Tonmaterial, Nummern aus der Operette „Gruß und Kuß aus der Wachau“ und zeigt das damalige Volksopernensemble bei Proben und im Privatleben. Die einzelnen Teile sind collageartig miteinander verwoben und hinterlassen zumindest vor der Pause einen überraschend einheitlichen und stringenten Gesamteindruck.

Die Handlung umfasst knapp zwei Monate von Mitte Februar bis April 1938. Anhand von Proben der genannten Operette wird gezeigt, wie sich die Tagespolitik immer stärker ins Geschehen einmischt und die persönlichen Spannungen innerhalb des Ensembles zunehmen. Schließlich werden die jüdischen und politisch unliebsamen Personen von den neuen Machthabern aussortiert. Ihnen drohen, so sie es nicht ins Exil schaffen: Verfolgung, Deportation, Ermordung. Die Volksoper greift dabei auf reale Biographien zurück: vom in Auschwitz ermordeten Schriftsteller und Librettisten Fritz Löhner-Beda bis zu Hulda Gerin, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Hilde Güden Karriere machen sollte.

Eine wichtige Rolle spielt in der Gesamtkonzeption die Operette „Gruß und Kuß aus der Wachau“. Die Uraufführung an der Volksoper ging am 17. Februar 1938 über die Bühne: Musik Jara Beneš, Text: Hugo Wiener, Kurt Breuer, Fritz Löhner-Beda. Das Werk bietet die üblichen Liebesverwirrungen der leichten Muse mit der fremdenverkehrsträchtigen Wachau als regionalem Bezugspunkt. Die Operette endet mit sage und schreibe fünf (!) Hochzeitspärchen. Die Besprechung der Uraufführung in der Illustrierten Kronen Zeitung (18. Februar 1938) spricht passender Weise von einem „Fünfmäderlhaus“. Die Produktion wurde positiv rezensiert, die erwähnte Kritik merkt allerdings an, dass man von den insgesamt 17 Bildern bei einer Spieldauer von fast vier Stunden zwei oder drei hätte streichen können: dann hätte das Werk „noch hübscher“ gewirkt.

Die Volksoper bringt für ihre dokumentarische Zeitreise das Produktionsteam und das Ensemble von damals auf die Bühne: das Publikum begegnet zum Beispiel dem Intendanten Alexander Kowalewski, dem Autor Hugo Wiener, dem Librettisten Fritz Löhner-Beda, dem Regisseur Kurt Hesky oder ausführenden Künstlern wie Fritz Immhof oder der schon genannten Hulda Gerin. Um das Gesamtbild zu schärfen, hat man außerdem den Uraufführungstermin der genannten Operette von Februar auf April verschoben. (Wer die detaillierte Inhaltsangabe im Programmheft liest, könnte leicht dem Irrtum verfallen, „Gruß und Kuß aus der Wachau“ wäre wirklich erst im April 1938, also nach dem Anschluss, uraufgeführt worden. Dabei handelt es sich aber um einen dramaturgischen Kunstgriff, den man im Programmheft etwas deutlicher hätte kommunizieren können.)

Links im Vordergrund der Bühne befindet sich das „Regiepult“, von dem aus das Produktionsteam die Proben der Operette „Gruß und Kuß aus der Wachau“ leitet. Der Großteil der Bühne ist für die Szenen aus der Operette reserviert, sowie für einige biographische Sequenzen mit jeweils dazu passenden Aufbauten. Im Hintergrund wird das auf die jeweilige Szene abgestimmte dokumentarische Videomaterial eingespielt, wobei Schuschniggs „Gott schütze Österreich!“ und Hitlers Heldenplatzansprache wichtige Markierungspunkte auf der von der Produktion abgearbeiteten historischen Zeitachse bilden.

Musikalisch speist sich der Abend aus eingängigen Nummern besagter Operette, ergänzt um Ausschnitte aus Werken von Arnold Schönberg, Gustav Mahler und Viktor Ullmann, die zum Beispiel zwischen Szenenwechseln zum Einsatz kommen, sowie neu komponierter Musik von Keren Kagarlitsky. Nach der Pause mischt sich die Operettenseligkeit immer stärker mit der (Marsch-)Musik der Machthaber. Nachdem dem die Partitur von „Gruß und Kuß aus der Wachau“ nicht mehr aufgefunden werden konnte, ist die Musik anhand eines Klavierauszugs von Keren Kagarlitsky orchestriert und mit Feingefühl den dramaturgischen Notwendigkeiten angepasst worden.

Die Aufführung dauert inklusive einer Pause über drei Stunden. Manches gerät dabei sehr überzeugend, manches weniger, was auch der Länge des Abend geschuldet ist –- beziehungsweise dem Bestreben, ihn nicht zu lange geraten zu lassen. Was auf den ersten Blick widersprüchlich klingt, hat mit der immensen Stofffülle zu tun, die verarbeitet werden soll: Im zweiten Teil ist der Produktion die Herausforderung anzumerken, die vielen Biographien von Menschen, die es buchstäblich in alle Welt verstreut hat, auf einen „Bühnennenner“ zu bringen. Außerdem müssen noch die Proben für „Gruß und Kuß aus der Wachau“ abgeschlossen werden, was dann quasi im „Zeitraffer“ passiert. Die letzten Worte aber bleiben dem Bühnenmeister vorbehalten, der sich im Laufe der Vorstellung bereits als nachdenklicher Fan von Kaiser Franz Josef geoutet hat: „Wos sol ma do sogn?“ Ist das jetzt die Kapitulation vor den Greueln der Geschichte (und der Gegenwart) oder eine Frage an das Publikum? Und so entließ einen die Aufführung nachdenklich in eine überraschend milde Dezembernacht.

Bei der Vielzahl an Mitwirkenden möchte man gar nicht einzelne Künstlerinnen und Künstler gesondert herausheben, sondern dem Ensemble sowie allen an der Produktion beteiligten Mitarbeitern insgesamt für diesen bemerkenswerten Musiktheaterabend danken. Das Publikum spendete länger anhaltenden Schlussapplaus. (Uraufführung war am 14. Dezember 2023, obige Anmerkungen beziehen sich auf die zweite Vorstellung.)

PS: Im Balkonfoyer wurden einige Informationstafeln angebracht, die sich mit der Uraufführung der Operette „Gruß und Kuß aus der Wachau“ befassen und wichtigen, damals daran beteiligten Protagonisten.